2024-09-04T10:07:12+0000

Spiel mit der Angst: Wie gefährlich sind verunfallte E-Autos wirklich?

Derzeit kursieren unterschiedliche Positionen im Markt, was die notwendige Qualifikation und die angemessenen Sicherheitsmaßnahmen bei beschädigten Elektrofahrzeugen angeht. In der Folge haben sich hierzulande unterschiedliche Vorgehensweisen hinsichtlich Bergung, Transport und Quarantänelagerung etabliert. „Wir beobachten diese Entwicklungen genau, denn teilweise werden bestehende Sicherheitsmaßnahmen oder -vorgaben aus unserer Sicht falsch interpretiert“, betont Rainer Kühl, Prokurist vom Kraftfahrzeugtechnischen Institut (KTI). Dessen Unfallreparaturforscher beschäftigen sich seit vielen Jahren intensiv mit der Reparatur von Elektrofahrzeugen im allgemeinen sowie HV-Batterien im speziellen und haben sich zum Ziel gesetzt, im Rahmen einer Arbeitsgruppe präzise Kriterien für den Umgang mit verunfallten E-Autos zu definieren. Denn, so KTI-Projektleiter Philipp Fuchs, „was nicht passieren darf, ist, dass Unfallfahrzeuge pauschal zum Risikofaktor erklärt und ohne technische Erforderlichkeit in Quarantäne gestellt sowie dort auf unbestimmte Zeit verwahrt werden.“ Weiterhin betont er: „Denn das hat gleich mehrere Folgen: teilweise werden voll funktionsfähige und sichere Antriebsbatterien als defekt deklariert – das ist nicht nur nachhaltig fragwürdig, sondern auch nicht kosteneffizient. Hinzu kommt ein weiterer Vertrauensverlust der Autofahrer, der schlimmstenfalls sogar in eine Angst vor der Technologie mündet.“ ## „Schüren aus unserer Sicht bewusst Ängste“ Als bedenklich ordnen das KTI und die Teilnehmer der mitwirkenden Arbeitsgruppe – darunter Berufsgenossenschaften, Automobilhersteller, Branchenverbände, Sachverständigenorganisationen und Kfz-Versicherer – in diesem Zusammenhang vor allem die Vorgehensweise der Intitiativ Gemeinschaft Bergen Transport eMobilität (IGBTe) ein. Diese wurde von verschiedenen Abschlepp- und Bergediensten sowie dem Kompetenzzentrums für Sicherheit im Verkehr (KoSiV) gegründet. Letzteres bietet Schulungen rund um verunfallte Hybrid- und Elektrofahrzeuge für Abschlepp- und Bergedienste sowie deren Mitarbeitende an. Doch wo genau liegt aus Sicht des KTI und der Arbeitsgruppe die Problematik? Rainer Kühl erklärt: „Die Verantwortlichen von IGBTe und KoSiV erwecken bei ihren Referaten auf Branchen- und Informationsveranstaltungen den Eindruck, dass beschädigte Elektrofahrzeuge ein enormes Risiko bergen und schüren aus unserer Sicht hier bewusst Ängste. Mit diesem hohen Sicherheitsrisiko werden nicht nur eigene Qualifizierungsmodelle gerechtfertigt, sondern teilweise auch das Außerkraftsetzen von Herstellervorgaben sowie besondere Sicherungsmaßnahmen.“ Darüber hinaus führt er an: „In der Praxis führt das dazu, dass viele Abschleppdienste, die der IGBTe angehören oder durch KoSiV geschult wurden, die Fahrzeuge nicht nur teils unnötig oder unnötig
lange in Quarantäne verwahren, sondern darüber hinaus auch Vertretern von Sachverständigenorganisationen, Kfz-Versicherern oder Herstellern den Zugang zum Fahrzeug verweigern oder erschweren.“ Die Redaktion von schaden.news hat deshalb einen Fragenkatalog rund um den Umgang mit verunfallten Elektrofahrzeugen an Michael Kemeny, Geschäftsführer von KoSiV, gesendet. ## Braucht es wirklich zusätzliche Qualifizierungen? So wird durch KoSiV und IGBTE unter anderem ein eigenes Qualifizierungsmodell kommuniziert und umgesetzt, dass demnach speziell auf den Umgang mit Unfallfahrzeugen ausgerichtet sei, wie KoSiV-Geschäftsführer Michael Kemeny auf Anfrage von schaden.news antwortete. „Die Qualifikationen U1 und U2 sind speziell für die Abschlepper, Gutachter, Polizei, Feuerwehr abgestimmt. Hier werden die Besonderheiten, gesetzlichen Vorschriften im Arbeitsschutz und die Lagervorschriften besprochen und erläutert.“ Doch wofür braucht es überhaupt eine U-Qualifizierung und warum reicht die S-Qualifizierung nach DGUV aus Sicht von KoSiV und IGBTe nicht aus? Michael Kemeny erklärt in diesem Zusammenhang: „Wenn das Fahrzeug einen starken Unfall erleidet, wurde es nicht bestimmungsgemäß genutzt und ist mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr serienmäßig in Bezug auf funktionierende Sicherheitseinrichtungen. Der bestimmungsgemäße Gebrauch ist nicht mehr gegeben. Somit gibt es eingeschränkte oder keine Produkthaftung der Hersteller, die einhergehen mit Herstellervorgaben wie man sich bei einem Unfall verhalten soll.“ Heißt das im Umkehrschluss, Fachkräfte mit einer 3S Qualifizierung dürften nicht an verunfallten Elektroautos arbeiten? Die Antwort von Michael Kemeny darauf lautete: „Nicht unbedingt. Der gut ausgebildete 3S Mitarbeiter kann die Gefahren erkennen. Jedoch wurde er nur an Serienfahrzeugen mit Herstellervorgaben ausgebildet – das spezielle Arbeiten am Unfallort, Prüfort oder gesicherten Ruheflächen ohne Herstellervorgaben fehlt bei dieser Ausbildung.“ ## Serienfahrzeug bleibt auch nach einem Unfall ein Serienfahrzeug André Skupin, Leiter Technische Prüfstelle für den Kraftfahrzeugverkehr beim DEKRA e.V. Dresden, bestätigt dies hingegen nicht. Auf Anfrage von schaden.news erklärt er: „Beschädigungen – beispielsweise durch einen Unfall – kommen als Grund für das Erlöschen der Betriebserlaubnis grundsätzlich nicht in Frage. Das gilt auch für Elektrofahrzeuge. Sie sind auch nach einem Unfall und mit schweren Beschädigungen grundsätzlich weiterhin als Serienfahrzeuge zu betrachten.“ Weiter führt der Experte aus: „Das Erlöschen der Betriebserlaubnis nach §19 der Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung (StVZO) ist immer Folge eines aktiven Handelns, sprich von Veränderungen, Umbauten etc., die die Fahrzeugart verändern, die eine Gefährdung von Verkehrsteilnehmern erwarten lassen oder das Abgas- und Geräuschverhalten verschlechtern.“ Das bestätigt auch Martin Ertl, Vorstand vom Verband der Bergungs- und Abschleppunternehmen (VBA), in einem offiziellen Statement. Darin heißt es: „Bei einem Kraftfahrzeug erlöschen weder Typgenehmigung noch ABE nach einem Unfall. Wäre es
bei Elektrofahrzeugen anders, träfe das gleichermaßen auf Verbrennerpendants zu. Im Umkehrschluss hieße das, dass es für jedes Kraftfahrzeug nach einer erfolgten Unfallreparatur einer Begutachtung nach § 21 StVZO (Vollabnahme) oder gar § 13 EG-FGV (Einzelabnahme für nicht typgenehmigte Fahrzeuge) bedürfte, um das Fahrzeug wieder in den Verkehr bringen zu können. Dem ist bis heute nicht so. Damit ist die Aussage, Elektroautos wären nach einem Unfall keine Serienfahrzeuge mehr, bereits ad absurdum geführt. Entsprechend greifen selbstverständlich auch Herstellervorgaben für die jeweiligen Fahrzeuge. Grundsätzlich stehen wir auf dem Standpunkt, dass Herstellervorgaben, welcher Art auch immer, zu berücksichtigen sind.“ ## Zusätzliche Qualifizierung ist laut VBA und BGHM sicherheitstechnisch nicht notwendig Darüber hinaus sei auch die Notwendigkeit einer zusätzlichen Qualifizierung nicht gegeben – wie die Berufsgenossenschaft Holz und Metall (BGHM) gegenüber schaden.news erklärt: „Die Aussage, dass ein Unfallfahrzeug kein Serienfahrzeug mehr ist und deswegen eine andere oder eine über die in der DGUV Information 209-093 beschriebene Qualifikation (1S, 2S, 3S) hinausgehende Ausbildung notwendig ist, können wir nicht bestätigen. Uns ist auch nicht bekannt, auf welcher Basis diese Aussage getroffen wird.“ Weiter heißt es in dem offiziellen Statement: „Für das Rettungs- und Bergepersonal ist mindestens eine Qualifikation zur Fachkundig unterwiesenen Person (FuP) nach DGUV Information 209-093 ‚Qualifizierung für Arbeiten an Fahrzeugen mit Hochvoltsystemen‘ (Abschnitt 5.1.3) erforderlich. Bei unklaren Situationen oder wenn eine elektrische Gefährdung nicht ausgeschlossen werden kann, ist eine Fachkundige Person für Hochvoltsysteme (FHV) Stufe 2S oder 3S hinzuzuziehen. Das ist auch dann zu tun, wenn nach einem Unfall die Sicherheitseinrichtungen und automatische Deaktivierung des HV-Systems nicht greifen oder nicht beurteilt werden können und dadurch eine elektrische Gefährdung nicht ausgeschlossen ist. Das kann bei diversen Unfall-Szenarien, z.B. bei einem Heckaufprall ohne Airbag-Auslösung, schweren Unfällen mit Brandereignis oder stark beschädigten Fahrzeugen der Fall sein.“ Bestätigt wird diese Aussage zusätzlich auch noch einmal vom Verband der Berge- und Abschleppunternehmen. „Wir stehen als Verband in engem Austausch mit den Unfallversicherungsträgern und es besteht Konsens darüber, dass die Qualifikationsstufen gemäß DGUV Information 209-093 auch für unser Gewerbe maßgeblich sind“, betont Martin Ertl gegenüber schaden.news. Und der Vorstand wird sogar noch deutlicher in Bezug auf zusätzliche Qualifizierungsmaßnahmen: „Andere, ergänzende oder wie auch immer geartete Zusatzqualifikationen verfolgen in erster Linie ein monetäres Interesse verschiedener Schulungsanbieter und Marktteilnehmer.“ ## Kann eine Antriebsbatterie ihre ECE-Zulassung verlieren? Parallel zur Annahme, dass ein verunfalltes Fahrzeug seine Betriebserlaubnis verliert, vertreten sowohl IGBTE als auch KoSiV zudem die Auffassung, dass auch die Typgenehmigung einer HV-Batterie nach einem Unfall erlösche und Herstellervorgaben somit nicht zum Tragen kommen würden. Konkret schreibt KoSiV-Geschäftsführer Michael Kemeny auf die Frage von schaden.news: „Die ECE R100 beinhaltet die Homologation für Lithiumbatterien für Elektrofahrzeuge und bestimmt somit den
Sicherheitsstandard. Also auch die darauf abgestimmte Arbeitsanweisung an HV Lithium Akkus. Sollte der Energiespeicher beschädigt werden, dann erlischt auch diese Regelung. Das Arbeiten an diesem Energiespeicher wird dann über weitere DGUV -Vorschriften geregelt.“ Auf die Nachfrage, auf welcher Grundlage die Zulassung erlischt, hat die Redaktion bis zum Redaktionsschluss allerdings keine weitere Erklärung erhalten. Nach Angaben des Befragten DEKRA-Experten André Skupin und einem der führenden Batteriehersteller CATL scheint das Erlöschen der Batteriezulassung jedoch keineswegs ohne weiteres möglich zu sein. Denn, mit der ECE R100 verhalte es sich laut André Skupin ähnlich wie mit der Betriebszulassung eines Elektrofahrzeuges: „Auch die UN-ECE-Regelung 100, die für die Typgenehmigung von Elektrofahrzeugen maßgeblich ist, enthält keine Tatbestände für das Erlöschen der Betriebserlaubnis. Sie gilt aber ohnehin explizit nicht für verunfallte Fahrzeuge.“ Darüber hinaus liegt der Redaktion außerdem ein Statement von Batteriehersteller CATL vor. Darin heißt es: „Wenn die ECE R100-Typgenehmigung vom Verkehrsministerium erteilt wird, steht die Gültigkeit des Zertifikats nicht in direktem Zusammenhang damit, ob es einen Unfall gibt und die Batterie defekt oder beschädigt ist.“ ## Kostensteigerung durch unnötig lange Quarantänelagerungen befürchtet? „Aus unserer Sicht ist vor allem der von KoSiV empfohlene Umgang mit beschädigten oder vermeintlich beschädigten HV-Batterien nach einem Unfall fragwürdig. Diese werden von den jeweiligen Abschleppunternehmen, die nachweislich durch KoSiV geschult wurden, unserer Meinung nach unnötig lange in Quarantäne verwahrt“, erklärt Rainer Kühl (KTI). Gegenüber schaden.news berichtet er zudem: „Verschiedene Mitglieder unserer Arbeitsgruppe berichten, dass Gutachtern mit entsprechender Hochvolt-Qualifizierung der Zugang zum Fahrzeug verwehrt oder durch verschiedene Auflagen erschwert wurde.“ Sein Kollege Philipp Fuchs ergänzt: „Dadurch entsteht der Eindruck, dass die Fahrzeuge absichtlich und ohne technische Erforderlichkeit in Quarantäne gehalten werden, um diese dann womöglich gewinnbringend dem Kfz-Versicherer in Rechnung stellen zu können.“ Auch dem Zentralverband Karosserie- und Fahrzeugtechnik (ZKF) wird nach eigenen Angaben immer wieder von derartigen Fällen berichtet. Präsident Arndt Hürter betont auf Nachfrage der Redaktion: „Auch der Zentralverband Karosserie- und Fahrzeugtechnik beobachtet die Entwicklungen und Aktivitäten des KoSiV seit mehreren Monaten sehr genau. Immer wieder wird uns von horrend hohen Rechnungen für das Bergen und Abtransportieren von verunfallten Elektrofahrzeugen berichtet, wobei die in Rechnung gestellten Sicherungsmaßnahmen fachlich nicht nur fraglich, sondern bei den konkreten Schadenbildern schlicht nicht notwendig sind. Es gibt klare Vorgaben der Hersteller, die bei dieser Vorgehensweise keine Beachtung finden. Wir positionieren uns daher in diesem Fall zu 100 Prozent auf der Seite der Kfz-Versicherer, die durch diese Maßnahmen eine extrem hohe Kostenbelastung verzeichnen“. Der Branchenverband engagiert sich deshalb ebenso wie andere Verbände im Rahmen der vom KTI geleiteten Arbeitsgruppe intensiv für die Erstellung eines Grundsatzpapieres für die Quarantäne von verunfallten BEV (schaden.news berichtete). Das Ziel seien standardisierte und anhand technischer Erforderlichkeiten definierte Kriterien als Orientierungshilfe für Abschleppdienste, Werkstätten, Sachverständige und Kfz-Versicherer. ## Wie geht es jetzt weiter? Im Rahmen der schaden.news-Recherchen hat sich gezeigt, dass aktuell eine intensive Auseinandersetzung innerhalb der Branche beim Umgang mit verunfallten Elektrofahrzeugen erfolgt. Wie das KTI gegenüber schaden.news bestätigte, befänden sich unterschiedliche Branchenteilnehmer im Austausch, um sich zeitnah zu positionieren.
Lesens Wert

Mehr zum Thema