Desinfektionsmaßnahmen: „Die Notwendigkeit entfällt nicht“

_Seit gut zwei Jahren gehört die Fahrzeugdesinfektion von Kundenfahrzeugen als Corona-Schutzmaßnahme in vielen Werkstätten zum Alltag. Dennoch verweigern oder kürzen viele Kfz-Versicherer und Schadensteuerer die Kosten für diese Maßnahmen – gleichwohl die Gerichte die Erstattung mehrheitlich zusprechen. Mit den seit Juni steigenden Inzidenzzahlen steigt die Notwendigkeit der Vorsichtsmaßnahmen nun wieder. In einem Gastkommentar erläutert Rechtsanwalt Dr. Wolf-Henning Hammer von der ETL Kanzlei Voigt, warum Werkstätten sich nicht scheuen sollten, ihr Recht auf Erstattung gerichtlich durchzusetzen._ „Obgleich Corona im öffentlichen Bewusstsein aktuell vielfach in den Hintergrund getreten ist, belegen die ansteigenden Infektionszahlen und Inzidenzwerte jedoch eindrucksvoll, dass die Pandemie weder überwunden noch die Notwendigkeit von Vorsichtsmaßnahmen entfallen ist. Wer in dieser Situation Urteile liest, wie das des AG Dessau-Roßlau vom 16.02.2022 (Az. 4 C 316/21) wonach Desinfektionsmaßnahmen lediglich allgemeine, dem Arbeitsschutz zuzurechnende Kosten darstellen, die bereits in der übrigen Preisbildung enthalten sein sollen, kann sich nur verwundert die Augen reiben. Es mag ja zutreffen, dass Desinfektionskosten weder unmittelbar der Beseitigung von Unfallschäden dienen noch originär durch ein Unfallereignis verursacht worden sind – ohne die Corona-Pandemie wären sie dennoch nicht angefallen. Behauptungen wie „Eine Übertragung des Corona Virus durch kontaminierte Oberflächen ist zwar nicht auszuschließen, jedoch wenig wahrscheinlich.“ mögen zwar mit dem AG Aachen (Urt. v. 28.01.2021, Az. 110 C 161/20) übereinstimmen. Die qualifizierten Feststellungen der gemeinsamen Studie des Allianz Zentrums für Technik (AZT), des Zentralverbands Karosserie- und Fahrzeugtechnik (ZKF) sowie der Interessengemeinschaft Fahrzeugtechnik und Lackierung (IFL e.V.), wonach einfaches Händewaschen eben nicht ausreicht, sprechen indes eine ganz andere Sprache. ## Die Rechtsprechung ist (fast) einheitlich Die Kosten coronabedingter Schutzmaßnahmen sind schon deshalb nach § 249 Abs. 2 S. 1 BGB vollumfänglich erstattungsfähig, weil sie erforderliche Wiederherstellungskosten sind. Dies „gilt sowohl für die Kosten betreffend die Desinfektion vor Rückgabe des Fahrzeugs an die Klägerin, als auch für die Kosten vor Hereinnahme des Fahrzeugs in die Werkstatt“ (AG Hannover, Urt. v. 11.11.2021, Az. 528 C 5148/21). Auch das AG Ludwigsburg hatte die Frage treffend auf den Punkt gebracht. Mit einem – dezidiert vom LG Stuttgart (Urteil v. 21.07.2021, Az. 13 S 25/21) abweichenden – Urteil vom 05.11.2021 (Az. 6 C 611/21) stufte es die Desinfektionskosten gerade nicht nur als „bei Gelegenheit der unfallbedingten Instandsetzungsarbeiten und auch nicht als eigenständige Leistung ohne unmittelbaren Zusammenhang zur technischen Durchführung der Reparatur“, sondern als „einen integralen Bestandteil der in Auftrag gegebenen Reparatur“ ein (so übrigens auch LG Coburg, Urt. v. 28.05.2021, Az. 32 S 7/21). Vermutlich in Kenntnis der eingangs erwähnten Studie, wies es ausdrücklich darauf hin, dass erst durch die Desinfektion „für die Mitarbeiter|innen im Hinblick auf die Gefahr von Schmierinfektionen mit Covid-19 eine sichere Reparatur gewährleistet und nach Abschluss der Reparaturarbeiten eine sichere Übernahme des Fahrzeugs durch den
Geschädigten ermöglicht wird“ und dass ohne diese Schutzmaßnahmen in Zeiten der Corona-Pandemie keine ordnungsgemäße Werkleistung erbracht werden kann. Auch das AG Braunschweig (Urt. v. 24.02.2022, Az. 114 C 1550/21) und das AG Lünen (Urt. v. 06.12.2021, 7 C 130/21) betrachten die Desinfektionskosten nicht als eine unfallfremde Position, eine gesamtgesellschaftliche Anforderung oder eine reine Arbeitsschutzmaßnahme, deren Kosten vom Werkstattinhaber zu tragen wären. Denn „anders als bei üblichen betrieblichen Arbeitsschutzmaßnahmen (steht) ein Schutz vor dem Virus in Rede, der die Gesundheit der Mitarbeiter, aber eben auch der Geschädigten gefährden kann, wenn Werkstätten aus Kostengründen auf die Desinfektion verzichten“ (AG Lünen, a.a.O.). ## „Gegenargumente sind eindeutig“ Kurzum, die genannten Urteile legen gut nachvollziehbar dar, weshalb die Desinfektionskosten eine adäquat-kausale Folge des Verkehrsunfalls sind, der diese überhaupt erst erforderlich gemacht hat. Auch das AG Krefeld hat einen realitätsnahen Blick bewiesen, als es „angesichts der aktuellen Pandemielage und der Notwendigkeit zur Vermeidung von Ansteckungsgefahren besondere Desinfektionsmaßnahmen zu ergreifen“ den Ersatz der angefallenen Desinfektionskosten zusprach. Wenn Versicherer die Erstattung der Infektionskosten verweigern, sollte schon deshalb nicht klein beigegeben werden, weil die Corona-Pandemie aktuell wieder an Fahrt gewinnt und das Infektionsrisiko steigt. Die Gegenargumente sind eindeutig! ## Das Werkstattrisiko trägt der Schädiger Hinzu kommt, dass ein Schädiger die Desinfektionskosten im Zweifel auch unter dem Aspekt des Werkstattrisikos zu ersetzen hat. So hat sich z.B. auch das AG Hamburg-Altona (Urt. v. 30.07.2021, Az. 314b C 112/21) gegen das LG Stuttgart (a.a.O.) gestellt und – unter Hinweis auf vergleichbare epidemische Lage und mit ausführlicher Begründung – keinen Grund dafür gesehen, die Desinfektionskosten nicht dem Werkstattrisiko zuzuschlagen. Abschließend – und mit einem Augenzwinkern – sei noch auf einen Beschluss des AG Coburg vom 16.03.2022 (Az. 15 C 400/22) hingewiesen. In dem Prozess ging es um die Verweigerung der Erstattung der Desinfektionskosten durch einen ortsansässigen Versicherer. Am Ende fasste der Richter nicht nur die Prinzipien des Werkstattrisikos in bemerkenswerter Weise zusammen: er äußerte sich auch deutlich zur Schadenpraxis auf Seiten der Versicherungswirtschaft. Wörtlich heißt es in dem Beschluss: „So hat alleine das Amtsgericht Coburg in den letzten Jahren zur identischen Streitproblematik Tausendfach (!) in Verfahren gegen die Beklagte entschieden, dass das Werkstattrisiko, wenn also die Werkstatt falsch, zu lange oder zu teuer repariert, nicht zu Lasten des Geschädigten und Auftraggebers geht, sondern dem Schädiger und damit der eintrittspflichtigen Versicherung zum Nachteil gereicht. Bereits 2018 hat der erkennende Spruchrichter in einem viel zitierten Urteil hierzu geschrieben, dass der Beklagten offenbar allgemeine Schadensersatzgrundsätze unbekannt sind oder aber bewusst zum Nachteil des Geschädigten ignoriert werden“.
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