2022-05-24T09:48:38+0000

Die größten Mythen in der Schadenregulierung

Wer auffährt, hat laut Volksmund immer Schuld. Dabei ist das juristisch keinesfalls korrekt. Dennoch halten sich in den Köpfen der Autofahrer seit vielen Jahren zahlreiche Mythen rund um die Regeln im Straßenverkehr und die Schadenregulierung. Im 7. Automotive Online Forum der ETL Kanzlei Voigt (12.05.) räumte Rechtsanwalt und Geschäftsführer Henning Hamann mit den größten Irrtümern auf und zeigt, wie die Rechtsprechung tatsächlich zu den einzelnen Sachverhalten entschieden hat. ## Mythos 1: Spurwechsler haben immer Schuld Wer auf der Autobahn die Fahrspur wechselt und dadurch einen Unfall verursacht, trägt die Schuld. Das klingt für viele Fahrer logisch, aber ist das wirklich so? „Nein“, lautet die klare Antwort des Rechtsexperten. Und dazu gibt es sogar eine wegweisende Entscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 1992. Der Fall: Durch den Spurwechsel eines BMW-Fahrers auf die linke Autobahnspur musste ein Porsche eine Notbremsung einleiten, geriet dadurch ins Schleudern und kollidierte mit einem Wohnwagenanhänger auf der rechten Fahrspur. Der Anhänger wurde durch den Aufprall wiederum auf einen, auf den Standstreifen stehenden Opel geschleudert. Der unter dem Opel liegende Fahrer, der gerade versuchte, die Lichtmaschine zu reparieren, wurde bei diesem Unfall schwer verletzt und klagte auf Schadenersatz. Da der BMW-Fahrer nicht mehr auffindbar war, Zeugen jedoch die Unfallursache bestätigten, wiesen alle Gerichte die Klage ab. Der verletzte Opelfahrer zog in letzter Instanz vor das BGH und bekam recht. Denn: „Das BGH beruft sich auf die Richtgeschwindigkeit von 130 km/h. Da der Porsche laut Gutachter eine Geschwindigkeit zwischen 145 und 183 km/h hatte, trifft ihn wegen Überschreiten der Richtgeschwindigkeit eine Mitschuld. Es sei denn, er kann beweisen, dass der Unfall auch mit 130 km/h genauso passiert wäre“, erklärt Henning Hamann das Urteil. ## Mythos 2: Kein Gutachten mehr, wenn schon Kostenvoranschlag vorliegt Geschädigte glauben häufig, dass sie bei einem bereits bestehenden Kostenvoranschlag keinen Anspruch mehr auf ein Schadengutachten haben. Auch das ist ein Mythos. „Das Problem ist, dass die Wertminderung in einem Kostenvoranschlag nicht ausgewiesen werden kann“, erklärt Henning Hamann. Das Argument der Versicherer, eine Wertminderung würde vor allem bei älteren Fahrzeugen ohnehin nicht anfallen, sei in diesem Zusammenhang jedoch nicht haltbar. Denn, so der ETL-Geschäftsführer: „Auch die Feststellung, dass keine Wertminderung anfällt, ist für den Geschädigten ein wertbildender Faktor.“ Das bestätigten unter anderem die Amtsgerichte Halle (Saale) und Kassel in Urteilen aus 2019 und 2022. Das gelte – wie im Fall des Kasseler Gerichts – sogar dann, wenn bereits ein eigenes Gutachten durch den Versicherer beauftragt wurde. ## Mythos 3: Ein Mietwagen darf nur solange genutzt werden, wie es im Gutachten steht Muss die gegnerische Versicherung für die Mietwagennutzung aufkommen, wenn die
über die im Gutachten prognostizierte Dauer hinausgeht? „Natürlich“, räumt Henning Hamann mit diesem Mythos auf. Denn die Angabe im Gutachten sei lediglich eine Prognose bzw. Schätzung und, so der Rechtsanwalt, „das Risiko einer falschen Prognose trägt der Schädiger“. Das heißt konkret: Verlängert sich die Reparaturdauer – z.B. aufgrund fehlender Ersatzteile – muss der Schädiger die dadurch verlängerte Ausfalldauer tragen. Gerade jetzt, wo Reparaturbetriebe verstärkt mit Lieferproblemen von Ersatzteilen zu kämpfen haben, ist dieser Fakt entscheidend. Bereits 2013 entschied der BGH: „Der Anspruch auf Ersatz des Nutzungsaufalls besteht für die erforderliche Ausfallzeit, d. h. für die notwendige Reparatur- bzw. Wiederbeschaffungsdauer zuzüglich der Zeit für die Schadenfeststellung und ggf. einer angemessenen Überlegungszeit.“ Übrigens: Bei Totalschäden im Bereich der 130%-Grenze muss dem Geschädigten nach Erhalt des Gutachtens ein Überlegungszeitraum von 2-3 Tagen gewährt werden, erst daran schließt sich der Wiederbeschaffungszeitraum an. Dieser sollte laut dem Anwalt aufgrund der aktuellen Situation im Gebrauchtwagenmarkt vom Gutachter zudem deutlich erhöht werden.
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