2020-11-25T14:06:09+0000

Immer mehr Klagen wegen Corona-Maßnahmen

Die Auswirkungen der Pandemie in der Unfallreparaturbranche beschäftigen nun auch zunehmend deutsche Gerichte. In den vergangenen Monaten häufen sich Klagen von Geschädigten gegen Kfz-Versicherer, die sich weigern, den Zusatzaufwand von Werkstätten für Hygiene- und Desinfektionsmaßnahmen zu bezahlen. „Wir stellen vermehrt fest, dass entsprechende Klagen in ganz Deutschland anhängig sind und es vermehrt auch zu Urteilen kommt“, erklärt Hanning Hamann, Geschäftsführer und Rechtsanwalt von ETL Kanzlei Voigt. Mehrere hundert solcher Gerichtsverfahren würden derzeit laufen, heißt es im Gespräch mit schaden.news. ## „Beklagte Kfz-Versicherer werden zur Zahlung verurteilt“ Nahezu alle bekannten Gerichtsverfahren gingen zu Lasten der Kfz-Versicherer aus, lautet die Erfahrung von Henning Hamann. „Uns sind vor allem Urteile bekannt, in denen der beklagte Kfz-Versicherer zur Zahlung der Corona-Maßnahmen verurteilt wurde.“ In der Urteilsbegründung heben die Richter auch die Notwendigkeit der Hygiene- und Desinfektionsmaßnahmen hervor. Beispiel Amtsgericht Kempten: Mitte Oktober wurde die Allianz Versicherung zur Zahlung von 96,30 Euro verurteilt (AZ C 844/20). Zitat aus der Begründung des Urteils: „Nachdem das Fahrzeug aufgrund des Verkehrsunfalls instand zu setzen war, sind auch die angefallenen COVID-Reinigungskosten zur Durchführung der Reparatur adäquat kausal durch den Unfall verursacht. Diese stellen nicht lediglich allgemeine Arbeitsschutzmaßnahmen dar, sondern sind gerade Teil des konkreten jeweiligen Reparaturauftrages und damit im Rahmen der Schadensbeseitigung vereinbart.“ ## Allianz Versicherung besonders häufig verklagt? Bisher kam es zwar zu wenigen, dafür aber richtungsweisenden Gerichtsurteilen, da sich viele Kfz-Versicherer bei Androhung einer Klage der Geschädigten doch zur Zahlung der Ansprüche entschlossen hatten. Dies bestätigt ZKF-Hauptgeschäftsführer Thomas Aukamm: „Wir haben besonders krasse Fälle auf dem Schreibtisch, bei denen wir direkt bei Kfz-Versicherern intervenieren und auf die aktuelle Rechtsprechung aufmerksam machen. Nach zähen Diskussionen wird dann doch gezahlt.“ Die Situation sei nach Ansicht von Thomas Aukamm vor allem nach der [Zeit- und Materialstudie des Allianz Zentrums für Technik und der Interessengemeinschaft Fahrzeugtechnik und Lackierung (IFL)](https://www.schaden.news/de/article/link/41978/ifl-temi-2020-fahrzeugdesinfektion-erhaelt-eigene-arbeitsposition) klarer denn je. „AZT und IFL haben die Grundlage geschaffen, um einen klaren Rahmen für die Abrechnung von Leistungen für Corona-Schutzmaßnahmen zu ziehen.“ Unverständnis gibt es deshalb in der Branche vor allem darüber, dass offenbar gerade die Allianz Versicherung von Geschädigten verklagt wird – obwohl die eigenen Fachleute im Allianz Zentrum für Technik die fachliche Begründung für die Notwendigkeit liefern. Der Redaktion liegen zahlreiche Mitteilungen der Allianz Versicherung vor, die Kürzungen von Desinfektionsmaßnahmen dokumentieren, ohne Bezug auf die Studie aus dem eigenen Hause. ## Stellungnahme der Allianz: „Rechtsprechung ist nicht einheitlich“ Auch der Bundesverband der Partnerwerkstätten (BVdP) teilt die Einschätzung, dass die Corona-Schutzmaßnahmen vor allem von der Allianz Versicherung nicht zahlt werden. Im [Interview mit dem neuen Geschäftsführer des Verbandes](https://schaden.news/de/article/link/42010/interview-michael-pinto) spricht Michael Pinto die
Münchener direkt an: „Unsere Mitgliedsbetriebe melden immer wieder, dass sie beim Werkstattnetz SPN und vor allem der Allianz Versicherung Probleme haben. Dort wird das Thema offenbar ignoriert oder unterbewertet.“ Auf Anfrage von schaden.news in München, ob die Allianz Versicherung von Geschädigten verklagt wird, teilt der Versicherer mit: „Die aktuelle Rechtsprechung zu dieser Thematik ist nicht einheitlich. Neben dem bekannten Urteil des AG Heinsberg, welches sich übrigens in den Urteilsgründen nicht mit den rechtlichen Fragen auseinandersetzt, gibt es zunehmend Gerichte, die eine Erstattungsfähigkeit der Corona-Desinfektionskosten durch den Kfz-Haftpflichtversicherer ausdrücklich verneinen.“ Die Allianz führt gegenüber der Redaktion zwei Gerichtsurteile an und teilt mit, dass der Aufwand für Desinfektion, Mundschutz und Handschuhe aufgrund der Corona-Pandemie nicht gesondert berechnet werden könne. Es handle sich insoweit um allgemeine Unkosten des Betriebes. Zudem sei nicht ersichtlich, auf welcher Rechtsgrundlage der Schädiger zur Zahlung verpflichtet sei. (AG Freiburg, Urteil v. 06.11.20 - Az.: 4 C 1218/20 und AG Saarbrücken, Urteil v. 25.09.2020 - 120 C 279/20 (05)). Die Redaktion legte die von der Allianz angeführten Urteile Rechtsanwalt Henning Hamann vor. Er kommt zu einer anderen Bewertung: „Die Entscheidung aus Saarbrücken, welche die Allianz benennt, betrifft einen Fall, in dem ein Gutachter seine Gutachterkosten eingeklagt hat und in seine Rechnung ebenfalls eine Pauschale für Desinfektionskosten aufgenommen hat. Leider hat der Sachverständige nicht erklärt, warum Desinfektionskosten erforderlich waren. Der Sachverhalt ist also mit dem Kernthema und der Frage, ob eine Werkstatt diese Kosten berechnen kann, überhaupt nicht vergleichbar und kann daher die Argumentation der Allianz nicht stützen.“ Richtig sei, dass es ganz vereinzelt Entscheidung geben würde, welche die Übernahme der Kosten ablehnen. Allerdings betont der Geschäftsführer von ETL Kanzlei Voigt: „Das Amtsgericht Heinsberg hat sich, anders als von der Allianz behauptet, sehr wohl rechtlich mit der Frage auseinandergesetzt, ob die Kosten der Desinfektion zu erstatten sind – und zwar mit dem Ergebnis, dass das der Fall ist. Die weit überwiegende Anzahl an Gerichten hält die Kosten eben für erstattungsfähig, und zwar aus tatsächlichen wie auch aus rechtlichen Gründen.“ Die Allianz bewertet die „Erfolgsaussichten in jeder Klage individuell“ und will jeden Einzelfall überprüfen. ## Wie steht die Allianz Versicherung zur Studie von AZT und IFL? Die Münchener sehen in der [Zeit- und Materialstudie des Allianz Zentrum für Technik (AZT) und der Interessengemeinschaft Fahrzeugtechnik und Lackierung (IFL)](https://www.schaden.news/de/article/link/41978/ifl-temi-2020-fahrzeugdesinfektion-erhaelt-eigene-arbeitsposition) keine Relevanz für die Zahlung des Mehraufwandes bei Corona-Maßnahmen. In der Stellungnahme der Allianz gegenüber schaden.news heißt es: „Bei der Ermittlung der Zeit- und Materialwerte in der ZKF- und AZT-Zeit- und Materialstudie ging es um eine rein technische Betrachtung der Fragestellung, welchen Aufwand aktuell notwendige Desinfektionsmaßnahmen hervorrufen. Die Studie enthält an keiner Stelle eine Ableitung von Ansprüchen hinsichtlich dessen, was im Rahmen der Fahrzeugreparatur an corona-bedingtem Mehraufwand in Rechnung gestellt werden kann. Diese Frage war nicht Gegenstand der Studie.“ Grundsätzlich hat die Allianz „volles Verständnis dafür, dass bei den Werkstätten durch die coronabedingte Reinigung der Fahrzeuge möglicherweise ein zusätzlicher Kostenaufwand entsteht.“ Die Kosten für Schutzmaßnahmen im Rahmen der Reparatur
im Zusammenhang mit dem Corona-Virus seien ihrer Ansicht nach aber betriebliche Arbeitsschutzmaßnahmen, die dem Arbeitgeber zum Schutz seiner Mitarbeiter obliegen. Auf Nachfrage von schaden.news heißt es weiter: „Als Versicherer prüfen wir im Schadenfall ausschließlich, welche Kosten im Rahmen des Schadenersatzes zu erstatten sind. Nach unserer Auffassung sind Reinigungskosten Teil der Gemeinkosten der Werkstatt. Es handelt sich insoweit nach unserem Verständnis nicht um erstattungsfähige unfallbedingte Kosten.“ Zudem sei nicht immer nachvollziehbar, in welchem Umfang eine zu erstattende Zusatzleistung erbracht werde. „Nicht alle Werkstätten stellen uns hierzu etwas in Rechnung. Wenn Aufwände geltend gemacht werden, schwanken die Kosten dabei sehr stark und reichen von 5 bis 70 Euro je Fahrzeug. Dies erhöht den Prüf- und Kommunikationsaufwand im Einzelfall.“