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2024-11-19T11:58:45+0000

Web-TV: „Gegen Fachkräftemangel braucht es einen ganzen Werkzeugkoffer“

Unter dem Motto „Fachkräftenotstand ohne Ende – wie Betriebe jetzt umsteuern“ diskutierten am DEKRA Lausitzring (siehe Infobox) für die aktuelle Web-TV-Sendung: BFL-Präsident Steven Didssun, der im sächsischen Vogtland einen Fix Auto-Betrieb führt sowie der Unternehmer Marco Böge, Geschäftsführer der Böge GmbH in Kleinpösna bei Leipzig. Ebenfalls im Talk dabei: WorldSkills-Vizeweltmeister Jason Scherer sowie Tobias Brefeld, Director Head of Automotive Refinish Coatings DACH+ BASF. ## Fachkräftenotstand – wie schlimm ist die Situation wirklich? Aber wie stellt sich die aktuelle Situation in den Betrieben hinsichtlich des Personals überhaupt derzeit dar? BFL-Präsident Steven Didssun bezeichnete die Lage für die Fahrzeuglackierer, aber auch andere Gewerke in der Branche als sehr angespannt, aber auch regional sehr unterschiedlich. Dennoch betont er, dass die Ausbildungszahlen für den Beruf des Fahrzeuglackierers wieder steigen: Im Jahr 2023 lag die Zahl demnach bei 1.900 Neuverträgen. Weiterer Fakt: „Die Frauenquote liegt inzwischen bei 19 Prozent – das zeigt, wie attraktiv unser Handwerk inzwischen ist“, meinte der BFL-Präsident im Talk. Gerade auch Kampagnen, wie durch die Berufsverbände, hätten in den vergangenen Jahren zum besseren Image des Berufsbildes beigetragen. 36 Mitarbeiter, acht Auszubildende, zwei Standorte: Der Karosserie-, Lack- und Mechanik-Betrieb von Talkgast Marco Böge ist nach dessen Aussagen in den vergangenen Jahren stark gewachsen. Personalakquise sei daher ständig ein Thema. „Wir sind immer auf der Suche nach guten Fachkräften – auch antizyklisch.“ Hierbei lege der Betriebsinhaber Wert auf gut ausgebildete Fachkräfte – und die seien auch vorhanden im Markt. „Man muss nur seinen Betrieb als attraktiven Arbeitsplatz präsentieren“, meint der Unternehmer. Er merkte an dieser Stelle an, dass der administrative Aufwand für K&L-Betriebe stark gestiegen ist. Allein neun Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter seien an seinen beiden Standorten nur für die Administration abgestellt – die Grenze der Belastbarkeit sei erreicht. Auch aus Betriebsinhaber-Sicht ist laut Steven Didssun der Fachkräftemangel immer Thema, aber eines, das händelbar sei: „Wir sind dazu übergegangen, neue Wege im Marketing zu gehen und uns dadurch immer wieder als attraktiver Arbeitgeber zu präsentieren.“ So habe er inzwischen auch immer wieder Initiativbewerbungen auf dem Tisch – trotz hohem Konkurrenzdruck in der Region durch die Industrie. Aus Sicht des Lackherstellers BASF/Glasurit schaut Tobias Brefeld derzeit grundsätzlich sehr positiv auf die Branche. Die Auftragslage in den Werkstätten sei gut, aber der Fachkräftemangel, der auch beim ColorMotion-Event in Hamburg im September Thema war, beschäftige die Betriebe. Der Director sieht eine relativ heterogene Struktur, was das Thema betreffe. „Für uns als BASF ist es wichtig, da am Zug zu sein. Ganz unterschiedliche Projekte zahlen darauf ein.“ Als Beispiel nannte er auch die Kooperation mit der Zukunftswerkstatt in Esslingen. Zudem betonte er: „Ich bin davon überzeugt, dass das Führungsverhalten in den Werkstätten eine ganz wichtige Rolle bei der Fachkräftegewinnung und -bindung spielt.“ Als Stimme aus der in der Öffentlichkeit stark kritisierten Generation Z sprach Fahrzeuglackierer Jason Scherer im Talk über seinen Werdegang als auch seine Teilnahme an den WorldSkills in Lyon. „Meine Bekannten und Freunde sind erstaunt, was
der Fahrzeuglackierberuf alles bietet“, erzählt er, dass vieledurch seine Teilnahme an der Weltmeisterschaft und das damit verbundene öffentliche Interesse erst auf das Berufsbild aufmerksam geworden seien. Mit seiner Berufswahl und der bewussten Entscheidung, in einen K&L-Betrieb zu gehen, fühle sich Jason Scherer jedoch oftmals noch als Ausnahme. „Viele meiner Mitschülerinnen und Mitschüler sind nach der Berufsschule in die Industrie gegangen“, berichtet er. ## Welche Lösungsansätze haben Verband, Betriebe und die Lackindustrie? Doch wie lässt sich der Fachkräftemangel in der K&L-Branche lösen? Im Talk gab es dazu Lösungsansätze aus ganz unterschiedlicher Perspektive. So versucht Marco Böge grundsätzlich, immer mit positiven Gedanken an das Thema heranzugehen und an erster Stelle seinem bestehenden Personal ein gutes Gefühl zu vermitteln: „Wir sollten nicht nur an Lohn denken, um unsere Mitarbeiter zu motivieren, sondern an die Wertigkeit der Arbeit. Wir sind den größten Teil des Tages im Team zusammen. Die Begeisterung, jeden Tag ins Büro zu kommen, kommt nicht von allein. Da gehört auch jede Menge Wertschätzung durch den Chef und auch das eine oder andere „Danke“ dazu“, erklärte der Unternehmer. Das Image seines Betriebs in der Öffentlichkeit sei dabei ein wichtiger Punkt, beispielsweise durch Social Media, aber auch durch die Kundengespräche. „Wenn es im Betrieb von der Stimmung her stimmt, dann spricht sich das auch herum und es werden potenzielle neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf das Unternehmen aufmerksam“, erklärt Marco Böge. Wie stark hatte bei Fahrzeuglackierer Jason Scherer der Lohn Einfluss auf die Berufswahl? „Bei der Ausbildungsvergütung war es mir nicht so wichtig. Mir war wichtiger, dass ich einen Job habe, der über die Jahre hinweg sicher ist, in dem ich mich auch weiterentwickeln kann“, berichtet er. Damit unterscheide sich der WorldSkills-Vize von vielen Gleichaltrigen, die oftmals viel Geld verdienen und wenig arbeiten wollen. Im sächsischen Kleinpösna geht Marco Böge gemeinsam mit seinem Team auch ungewöhnlichere Wege. So setzt der Unternehmer auf ausländische Fachkräfte. „Das ist natürlich eine riesige Herausforderung, die Fachkräfte zu integrieren, sodass sie sich in ihrem Arbeitsalltag wohlfühlen“, berichtet er. Über eine Jobplattform haben Marco Böge und sein Team Slava Kukosh kennengelernt und inzwischen als Fahrzeuglackierer eingestellt. Im Video-Einspieler berichtet der Ukrainer über seine ersten fünf Monate im Betrieb Böge. „Wir müssen viele Wege gehen und das ist einer davon, um diese Lücke zu schließen“, betonte der Betriebsinhaber. Das Berufsbild erneuern und modernisieren – das ist das Ziel des Bundesverbands der Fahrzeuglackierer, erklärte BFL-Präsident Steven Didssun mehrfach während des Talks. „Wo arbeiten wir denn wirklich – das haben viele junge Menschen gar nicht auf dem Schirm.“ So habe der Verband mit den Lackheroes auf Instagram bereits seit längerem eine breitere Öffentlichkeit erreicht. Der Verbandspräsident appellierte auch an die Betriebe, sich stärker zu engagieren. Auf der Innungsebene werde auch weiter daran gearbeitet. Als Betriebsinhaber hat Steven Didssun selbst Erfahrungen mit ausländischen Fachkräften gesammelt – einige würden sich super ins Team einfügen, andere wiederum nicht. „Das ist ein sehr komplexes Thema mit individuellen Fällen“. Schon allein, Lösungen zu suchen, neue Wege gehen, sei der erste Weg, um dem Fachkräftemangel zu begegnen. Neue Wege in der Imagebildung des Fahrzeuglackiererhandwerks ist Steven Didssun in seinem Unternehmen bereits gegangen. Der Betriebsinhaber hat kürzlich eine seiner Auszubildenden als Kandidatin für Miss Germany ins Rennen geschickt.
## Wie unterstützt der Lackhersteller gegen den Fachkräftenotstand? Dass gut ausgebildete Fachkräfte notwendig sind, um den Fahrzeuglackierberuf mit Leben zu füllen, hat auch Lackhersteller Glasurit erkannt. „In unserem BASF-Trainingszentrum in Münster werden ab kommendem Jahr Fahrzeuglackierer ausgebildet, der Bewerbungsprozess läuft gerade“, erklärte Tobias Brefeld. Zudem führt Glasurit im Rahmen seines ColorMotion Programms auch Seminare für junge Fachkräfte durch, beispielsweise zur Prüfungsvorbereitung für Azubis, aber auch Kurse für Quereinsteiger. In einem Videoeinspieler während des Talks berichtet Karosseriebautechniker Erik Kluttke, welche Erfahrungen er mit solch einem Quereinsteigerseminar gesammelt hat. Er zumindest hält es für vorteilhaft, wenn der Karosseriebauer auch bei Fahrzeuglackierarbeiten einspringen könnte. Ob das Thema Quereinstieg in Zukunft Schule macht, sei momentan noch nicht absehbar. „Ich glaube, es ist nicht das eine Instrument, das fruchtet. Aber der Werkzeugkasten in seiner Gesamtheit kann zu einer Lösung beitragen“, betont Tobias Brefeld. Auch Marco Böge positionierte sich stark hinsichtlich der Ausbildung von jungen Fahrzeuglackiererinnen und -lackierern: „Wir sollten als Handwerksbetrieb nicht vergessen, dass es in unserer Hand liegt, dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Wenn die Ausbildung nur ‚stört‘ in Betrieben, haben wir irgendwann keine Fachkräfte mehr. Und wir brauchen die Besten im Markt, weil die Anforderungen an die Unfallschadenreparatur immer höher werden.“ Quereinstieg als eine Lösung könne funktionieren, aber: „Gelernt ist gelernt, Handwerk ist Handwerk und Meister ist Meister.“ Dem stimmte Steven Didssun zu: „Vernünftige Ausbildung sichert Fachkräfte. Wir brauchen Spezialisten.“ Vorstellbar in der Runde sei ein Quereinstieg aus verwandten Berufsbildern. Das Interesse und das Talent dafür müsse vorhanden sein. „Ein Bäcker zu dem Fahrzeuglackierer zu machen, wird schwierig“, war sich die Runde einig. ## Wie können Betriebe Entlastung durch Prozessvereinfachungen erhalten und Fachkräftemangel kompensieren? „Der größte Wert, der in einem Betrieb steht, ist das Team“, betonte Tobias Brefeld während der Talkrunde. Die Industrie können dabei nur unterstützen, um so viel wie möglich Kapazitäten freizulegen. Als Beispiel nannte Tobias Brefeld an dieser Stelle die automatische Mischmaschine Alfa. „In dem Moment, wo die neuen Prozesse und Geräte implementiert werden, kann der Betrieb bei gleichen Ressourcen in die Lage versetzt werden, ein bis drei Jobs am Tag mehr zu machen“, betonte er in der Runde. Aber es sei immer von Fall zu Fall zu betrachten – daher berate Glasurit die Betriebe auch individuell: „Prozessbeschleunigung, Einfachheit der Prozesse, Prozessoptimierung – hier versuchen wir individuell Lösungen zu finden.“ Das bestätigte auch Steven Didssun: „Die Erleichterung ist schon da, aber der Mitarbeiter muss damit umgehen können.“ Auch die eigene Planung als Handwerksmeister und Geschäftsführer rücke immer weiter in den Mittelpunkt. „Hier ist es wichtig, sich stets selbst zu reflektieren und für Veränderung zu sorgen, ohne dabei das Personal zu verbrennen.“ Marco Böge kann sich momentan nicht vorstellen, dass die Technik den Fahrzeuglackiererjob irgendwann ersetzen wird. „Es heißt immer noch Handwerk – und das soll auch Handwerk bleiben. Doch Technik ist notwendig – sie muss nur weiter beherrschbar bleiben.“ Dass die junge Generation auch im Handwerk dennoch auf Technik setzt, bestätigt Jason Scherer: „Arbeitserleichterung durch Digitalisierung macht den Beruf auch attraktiver.“ ## Was wünschen sich die Talkgäste für die Zukunft der Branche? Mit welchen Wünschen die Talkteilnehmer in die Zukunft blicken, erklärten sie in der Talk-Abschlussrunde. So wünscht sich Marco Böge, dass die Werkstätten selbst auch dazu beitragen, das Berufsbild attraktiver zu gestalten: „Wir Betriebe müssen selbst aktiver werden. Der Mittelstand ist die treibende Kraft in unserem Land.“ Auch Steven Didssun betonte, dass er als BFL-Präsident, aber auch als Betriebsinhaber das Ziel verfolge, das Berufsbild zu modernisieren. „Das Handwerk muss im Vordergrund stehen – dazu müssen wir alle es innovativ leben und dürfen nicht immer nur jammern.“ Für Tobias Brefeld stehen nach dem Talk vor allem die sozialen Aspekte im Fokus: Wertschätzung fürs Team, der neuen Generation zuhören, gemeinsam gewinnen und kommunizieren – das sind aus seiner Sicht die wichtigsten Aspekte, um auch künftig Fachkräfte fürs Handwerk gewinnen zu können. Das Schlusswort in der Runde hatte Jason Scherer. Er ist nach wie vor motiviert, will in Kürze seine Meisterschule beginnen. Und auch für den internationalen Wettbewerb hat er Pläne. In Hinblick auf die EuroSkills 2027 in Düsseldorf lautet sein Ziel: „Eine noch bessere Medaille gewinnen – nächstes Mal bei einer Heim-EM!“
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