2022-08-03T11:07:32+0000

Wann kann man tatsächlich von einem gerichtsfesten Gutachten sprechen, Herr Grüninger?

_Vor allem die Versicherungswirtschaft setzt zunehmend auf automatisierte digitale Prozesse, um Kunden in Verbindung mit mobilen Apps neue Servicefunktionen oder Tarifoptionen anzubieten. Auch bei der Erfassung und Bewertung von Unfallschäden geht der Trend zunehmend in Richtung künstliche Intelligenz. Im Gespräch mit schaden.news erläutert Bernd Grüninger, Bereichsleiter Gutachten und Mitglied der Geschäftsleitung bei der DEKRA Automobil GmbH, den aktuellen Entwicklungsstand auf diesem Gebiet._ ___Derzeit entwickelt sich das Angebot an Apps zur Schadenaufnahme im Rahmen der Kfz-Schadenregulierung rasant. Wie blicken Sie auf die Entwicklung, Herr Grüninger?___ __Bernd Grüninger:__ Im Moment gleicht die Situation einer riesigen Spielwiese und doch sind es im Grunde genommen keine völlig neuen Bestandteile. Vielmehr geht es um die Frage, welche Geschäftsmodelle damit verknüpft werden. ___Und welchen Anteil hätte der Faktor KI bei diesen Modellen?___ __Bernd Grüninger:__Nicht jede App-Lösung oder Remote-Dienstleistung hat unbedingt mit Künstlicher Intelligenz zu tun. Es geht zum Beispiel um eine Lösung per App, bei der sich nicht der Sachverständige selbst unmittelbar am Fahrzeug befindet, sondern ein Anwender, der anhand eines geführten Menüs per Tablet die Schäden am Fahrzeug aufnimmt. Einer unserer Kunden im Gebrauchtwagenmanagement leitet schon seit Jahren entsprechend von ihm generierte Daten an uns weiter. Auf dieser Grundlage erstellen wir dann eine Zustandsbeschreibung mit der monetären Betrachtung der Schäden. ___Die Schadengutachten-App "DEKRA i2i" funktioniert ja ebenfalls ohne direkten Kontakt …___ __Bernd Grüninger: __ Genau – bei den i2i-Dienstleistungen erhält der Kunde einen Link anhand dessen er gemeinsam mit uns die Schadenaufnahme durchführt. Diesen Service hatten wir anfänglich während der Corona-Zeit angeboten und vereinzelt auch eingesetzt, insbesondere bei den Kunden, deren Standorte die Sachverständigen pandemiebedingt nicht betreten durften. Dabei haben wir aber auch gelernt: Den meisten unserer Kunden war und ist es lieber, den Sachverständigen vor Ort zu haben. Neben i2i gibt es noch Remote-Dienstleistungen auf Basis von Lichtbildern. Diese kommen vor allem bei Kleinstschäden als schlanke Alternative zum Schadengutachten zur Anwendung. Für einen Versicherer führen wir diese Dienstleistung ebenfalls schon seit mehreren Jahren durch. ___Bei gewissen Schadenkonstellationen ist es also möglich, eine Dienstleistung zu erstellen, ohne am Fahrzeug gewesen zu sein. Aber handelt es sich dabei dann um ein Gutachten im klassischen Sinne?___ __Bernd Grüninger:__ Nein. Wir halten uns an die Definition des Instituts für Sachverständigenwesen e.V. (IFS). Sie schreibt fest, welche Kriterien für ein Schadengutachten eingehalten sein müssen. Unter anderem bedeutet ein Schadengutachten für uns, dass der oder die Sachverständige selbst am Fahrzeug war. Bei Dienstleistungen, bei denen das nicht so ist, achten wir genau darauf, dass alle involvierten Parteien sich darüber im Klaren sind, wie sie entstehen, und benennen die Dienstleistung auch entsprechend. ___Das Gutachten eines Sachverständigen bildet ja auch eine gute Argumentationsbasis für Betriebe, um sich gegenüber etwaigen Regressklagen zur Wehr setzen zu können …___ __Bernd Grüninger:__ Um es klarzustellen: Die Gerichtsfähigkeit ist nur gegeben, wenn ein Gutachten erstellt wurde, das sämtlichen anerkannten Kriterien entspricht. Die Präsenz eines Sachverständigen vor Ort gehört aus meiner Sicht zwingend dazu. ___Das betrifft folglich auch KI-Lösungen, die eigenständig Kostenkalkulationen generieren?___ __Bernd Grüninger: __Hier wäre noch zu fragen, ob das dann wirklich die Maschine allein macht oder – wie wir ja von vielen Fällen wissen – ein Sachverständiger zum Teil noch Einfluss auf das Endprodukt nimmt. Das Problem bei dieser Vorgehensweise ist, dass der Sachverständige anschließend bewerten muss, was die KI kalkuliert hat, um dann entweder Ergänzungen oder Streichungen vorzunehmen, gerade im Zusammenhang mit Verbundarbeiten. Deshalb sind wir zu der Erkenntnis gelangt, dass unsere Sachverständigen tatsächlich schneller sind, wenn sie die Kalkulation von Anfang an selbst erstellen. Wir haben deshalb für uns entschieden, die aktuell angebotene KI nicht im Bereich der Kalkulation einzusetzen. ___Schafft sich der Berufsstand dennoch aufgrund dieser Technologie nicht früher oder später selbst ab? ___ __Bernd Grüninger:__ Das wird nicht so schnell passieren. Natürlich kann man beim Einsatz von KI am Anfang sehr schnelle Erfolge sehen. Die Arbeit wird aber umso aufwendiger und komplexer, je genauer die erzielten Ergebnisse sein sollen. Wir erleben das ja bei den mit unserer Schweizer Beteiligung Spearhead entwickelten Lösungen, wo wir durch Sachverständige ermittelte Kalkulationsdaten dem System zur Verfügung stellen. Je mehr Daten wir liefern, desto besser wird das KI-Ergebnis. Allerdings wird dieser Prozess eine Dauerschleife bleiben, weil ja laufend neue Fahrzeugtypen dazukommen. Der Sachverständige wird also weiterhin damit beschäftigt sein, zu überprüfen und korrigierend einzugreifen. Der Einsatz eines KI-Systems ohne Hinzunahme des menschlichen Sachverstands kann aus meiner Sicht nicht in allen Fallkonstellationen gut gehen. ___Der Umfang der zusätzlich durch einen Sachverständigen durchgeführten Arbeiten, dürfte aber in den kommenden zehn bis fünfzehn Jahren dennoch immer geringer werden …___ __Bernd Grüninger:__ Ich glaube tatsächlich, dass die Systeme schneller und genauer werden, und das wird dazu führen, dass man weniger menschliche Einsatzzeit zur Beurteilung des Schadenaufkommens benötigt. Hier wird sich die Frage stellen, wie die Verteilung läuft. Auf der anderen Seite denke ich aber auch, dass schlanke Dienstleistungen zu höheren Stückzahlen führen werden. Bei Schäden, die bislang über Kostenvoranschläge abgewickelt werden, könnten dann vermehrt auch Sachverständigendienstleistungen eingesetzt werden. Der Markt wird sich da seinen Weg suchen. __Haben Sie vielen Dank für das Gespräch!__
Lesens Wert

Mehr zum Thema