2025-12-17T08:20:21+0000

Zeitenwende im Schadenmarkt: Zwischen Kooperations-Appellen und neuen Konfliktfeldern

Nach fünf Jahren kehrte der Schadentalk im Web-TV dahin zurück, wo 2020 alles angefangen hatte: Beim Jubiläumstalk aus der Gläsernen Manufaktur von Volkswagen in Dresden, die seit dem 11. Dezember online abrufbar ist, ging es einerseits darum, die krassen Entwicklungen der letzten Jahre Revue passieren zu lassen. Gleichzeitig standen aktuelle Geschehnisse und Streitfragen im Fokus, ebenso wie der Ausblick auf künftige Trends. Das Moderatoren-Duo Ina Otto und Christian Simmert hatten dafür insgesamt 19 Talkgäste nach Dresden geladen. Im Talk zu Wort kamen neben den führenden Kfz-Versicherern auch Schadensteuerer sowie Vertreter der Lack- und Zuliefererindustrie. Experten aus den Bereichen Schadenrecht, Digitalisierung und Sachverständigenwesen ordneten die Geschehnisse ein. Die Sicht der Werkstätten war zudem durch den Branchenverband BVdP, vier Betriebsinhaber sowie eine Werkstattgruppe vertreten. Kurz um: Beim Jubiläumstalk kamen alle Player im Schadenmarkt zu Wort. Und dabei zeigte sich: Der Unfallreparaturmarkt befindet sich in einer fundamentalen Zeitenwende. Massive Marktkonsolidierung, technologische Umbrüche durch KI und Robotik sowie ein zutiefst angespanntes Verhältnis zwischen Werkstätten und Versicherern prägten die Debatte. Die schaden.news-Redaktion hat die wichtigsten Aussagen des Talks zusammengefasst. ## Wie verändern sich die Machtverhältnisse im Markt? Ein zentrales Thema in der Debatte in Dresden: Die Marktmacht der Allianz Versicherung. Ist die Akquisitionsoffensive – mit Control Expert (2020), GT Motive (2021) und der Innovation Group (2022) – ein notwendiger Schritt zu internationaler Effizienz, wie der Konzern argumentiert, oder der gezielte Aufbau eines marktdominierenden Ökosystems, wie Kritiker befürchten? Kai Gräper (DMS) äußerte die Sorge, hier entstünde eine „Marktmacht“, die die „gesamte Wertschöpfungskette“ beherrsche. Stefan Artz (Allianz) hielt dagegen und erklärte die Zukäufe als Teil einer globalen Konzernstrategie zur Etablierung standardisierter Prozesse. Er zog den Vergleich zu einem Werkstattunternehmer mit mehreren Standorten: „Reinhard Bayer hat ja mehrere Standorte und ich glaube, dass er nicht hingeht und sagt, in jedem seiner Standorte läuft's irgendwie anders.“ Es gehe darum, Mehrwert für den gesamten Konzern zu schaffen und nicht darum, eine marktbeherrschende Stellung in Deutschland zu etablieren. ## Lackmarkt im Fusionsfieber Auch der Lackmarkt ist in Bewegung. Die [angekündigte Fusion von AkzoNobel und Axalta](https://schaden.news/de/article/link/44804/akzonobel-uebernimmt-axalta) wird die Landschaft nachhaltig verändern, auch wenn Stefan Oesterling (AkzoNobel) betonte, dass beide Unternehmen bis zur Genehmigung in „ein bis zwei Jahren“
weiterhin im vollen Wettbewerb stehen. Gleichzeitig sieht [Glasurit durch die Übernahme eines 60-Prozent-Anteils durch den US-Investor Carlyle](https://schaden.news/de/article/link/44742/us-investor-uebernimmt-mehrheit-bei-basf-coatings) neue Wachstumschancen. Hendrik Franke (Glasurit) hob hervor, dass man nun einen „finanzstarken Partner“ an der Seite habe, der ein klares „Investment in Wachstum“ signalisiert habe. ## Werkstätten zwischen Selbstbewusstsein und Systemdruck Die Situation der Werkstattbetriebe ist ambivalent. Auf der einen Seite stehen unternehmerischer Mut und strategische Weitsicht, mit denen viele Betriebe die Krisenjahre für Investitionen und eine breitere Aufstellung nutzten. Auf der anderen Seite wächst der Druck durch Kosten, Regulierung und die Erwartungen der Schadensteuerer. Die anwesenden Betriebsinhaber – Marco Böge, Eric Müller, Maximilian Kogelheide und Torsten Stüting – zeichneten ein bemerkenswert positives Bild. Sie nutzten die Pandemiezeit für mutige Investitionen, Modernisierungen und die Erschließung neuer Geschäftsfelder wie E-Mobilität oder das boomende Caravan-Geschäft. Aus der Krise gingen sie gestärkt hervor und blicken nun selbstbewusst in die Zukunft. ## Appell nach Dialog und die Realität der Rechnungskürzungen Parallel dazu prägte der wiederholte Appell der Versicherer und Schadensteuerer nach mehr Dialog, Partnerschaft und Verständnis die Diskussion. Dimitra Theocharidou-Sohns (SPN) schlug vor, vom reinen „Dialog“ zur „Dialektik“ überzugehen, um durch den Austausch von Positionen eine „Synthese“ und damit echte Lösungen zu finden. Diesem Kooperationswunsch steht jedoch die von Rechtsanwalt Henning Hamann (Kanzlei Voigt) beschriebene Praxis der Rechnungskürzungen gegenüber. Während Kürzungen auf dem „Hinweg“ der Regulierung durch [die Entscheidungen des Bundesgerichtshofes](https://schaden.news/de/article/link/43827/kanzlei-voigt-ankuendigung-sonderwebinar-werkstattrisiko-2024) rechtlich schwieriger geworden sind, [nutzen Versicherer vermehrt den „Rückweg“ des Regresses](https://schaden.news/de/article/link/44529/zusammenfassung-sonderwebinar-kanzlei-voigt-regresse) – ein Vorgehen, das das Misstrauen zwischen den Parteien weiter schürt. ## Strategien der Versicherer: Kostendruck und neue Netzwerkkonzepte Der enorme Kostendruck, der sich in einer Combined Ratio von zeitweise über 110 Prozent manifestiert, ist die treibende Kraft hinter den Strategien der Kfz-Versicherer. Die Steuerung von Reparaturkosten durch optimierte Werkstattnetze und standardisierte Prozesse ist für sie von existenzieller Bedeutung. Dabei kristallisieren sich zwei unterschiedliche Philosophien heraus. Michael Schnapp (HUK-Coburg) legte die Strategie des Marktführers offen: Das Werkstattnetz wird gezielt um Markenbetriebe und große Handelsgruppen erweitert, um das gesteuerte Volumen zu erhöhen. Gleichzeitig hält man unnachgiebig am umstrittenen Abrechnungsmodell „Lack inklusive“ fest. Die Begründung: Am Ende zähle die „Gesamtkalkulation“ für die Reparatur, nicht die einzelnen Positionen. Der Fokus liegt klar auf Prozessoptimierung und Kostenkontrolle im traditionellen Sinne. Einen anderen Weg skizzierte Stefan Artz für die Allianz. Ziel sei ein „begeisternder und erlebbar machender Prozess“ für den Kunden nach einem Schaden. Digitalisierung und KI sind hier nicht nur Kostensenker, sondern entscheidende Hebel für „Schnelligkeit,
Nachvollziehbarkeit, Verlässlichkeit“ und damit für den Aufbau von Vertrauen. Artz bezeichnete das heutige System der manuellen Rechnungsprüfung mit anschließendem Regress als „wirtschaftlich und kaufmännisch völliger Unsinn“, das durch intelligentere, datengestützte Prozesse ersetzt werden müsse. ## Technologischer Wandel als Gebot der Stunde Die Expertenrunde war sich einig: Technologie ist der entscheidende Treiber für die zukünftige Wettbewerbsfähigkeit. Digitalisierung, KI und Automatisierung sind nicht länger optionale Zusatzleistungen, sondern wichtige Werkzeuge zur Effizienzsteigerung und Kostensenkung. Dr. Ingo Blöink (Solera Audatex AUTOonline) sprach von einem „Differenzierungsfaktor“ und ging sogar noch weiter: „Ich glaube, es wird künftig ein Nachteil sein, wenn man nicht in digitale Schadenprozesse investiert.“ Gleichzeitig wird KI das Berufsbild des Sachverständigen verändern. Christoph Mennicken (DEKRA) prognostizierte „weniger Standardfälle und mehr Spezialisierung“ für die Sachverständigen im Markt, während Routineaufgaben sukzessive durch digitale Prozesse und KI automatisiert werde. ## Automatisierung der Lackierkabine Ein weiterer Technologieschub steht in den Lackierbetrieben bevor. Vertreter der Lack- und Ausrüsterindustrie bezeichneten die Automatisierung durch Roboter im Lackierprozess übereinstimmend als eine zentrale Entwicklung, die massiv vorangetrieben werde. Ziel sei es, die Prozesssicherheit, Reproduzierbarkeit und Planbarkeit zu erhöhen und dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. [Lackhersteller PPG treibt diese Entwicklung bekanntermaßen mit der Firma Bluetech voran und erprobt bereits seit einigen Monaten den PaintGo in Hilden.](https://schaden.news/de/article/link/44747/ppg-testet-lackierroboter) Glasurit verriet in Dresden zudem, das Thema Lackierroboter gemeinsam mit Lackierpistolenhersteller SATA im nächsten Jahr nach vorn bringen zu wollen. ## Fazit: Ein Markt auf der Suche nach einem neuen Gleichgewicht Letztlich spiegelte die Jubiläumssendung des Schadentalk im Web-TV das Bild einer Branche, die sich in einer tiefgreifenden und konfliktreichen Transformationsphase befindet. Die zentralen Spannungsfelder sind unübersehbar: Der allgegenwärtige Ruf nach Kooperation prallt auf die harte Realität von Kostendruck und Regressforderungen. Die wachsende Marktmacht großer Konzerne trifft auf die beeindruckende Resilienz des Mittelstands. Gleichzeitig zwingt der Vormarsch von KI und Robotik alle Akteure, ihre Geschäftsmodelle fundamental zu überdenken. Die Suche nach einem neuen Gleichgewicht hat begonnen, doch die entscheidende Frage bleibt: Wird es ein partnerschaftlich definiertes Gleichgewicht sein oder eines, das von jenen wenigen Akteuren diktiert wird, die das meiste Kapital, die meisten Daten und die größte Marktmacht angehäuft haben?
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