2024-12-04T10:59:45+0000

Gefährdungsklassifizierung an verunfallten E-Autos: „Die Hersteller haben ihre Hausaufgaben gemacht“

Die Diskussionen rund um verunfallte Elektrofahrzeuge reißen nicht ab. [Wie schaden.news bereits im September berichtete, haben sich im Markt unterschiedliche Herangehensweisen hinsichtlich Bergung, Transport und Umgang mit verunfallten E-Autos etabliert.](https://schaden.news/de/article/link/44172/spiel-mit-der-angst-wie-gefaehrlich-sind-verunfallte-e-autos-wirklich) Die Unfallreparaturforscher des Kraftfahrzeugtechnischen Instituts (KTI) arbeiten deshalb weiter mit Hochdruck daran, die Branche dahingehend zu sensibilisieren und Klarheit zu schaffen. Unterstützung erhalten sie dabei u.a. von Automobilherstellern, Branchenverbänden, Sachverständigenorganisationen und Berufsgenossenschaft. In einem Fachsymposium zeigte das KTI vergangene Woche rund 50 Teilnehmenden, wie bei verschiedenen HV-Volumenmodellen im Falle eines Unfalls vorzugehen ist, um eine Beschädigung der Antriebsbatterie zweifelsfrei zu identifizieren und welche Vorgaben die Hersteller dafür explizit an die Hand geben. ## „Hersteller haben ihre Hausaufgaben gemacht“ Dafür wurden in der Versuchswerkstatt vor Ort drei Fahrzeuge unterschiedlicher Hersteller positioniert: einen Tesla Model 3, einen VW ID.3 sowie einen Fiat 500e. An jedem Modell demonstrierten die KTI-Mitarbeiter praxisnah den Ablauf der nach einem Unfall notwendigen Gefährdungsklassifizierung der HV-Batterie. Dabei gilt, gleich welcher Hersteller: Die für jedes E-Auto existierende Rettungskarte gibt Bergungsunternehmen, Abschleppern oder Werkstätten im ersten Schritt bereits wichtige Informationen rund um verbaute HV-Systeme und Spannungsfreischaltung an die Hand, ebenso wie die [von der IFL erstellte Checkliste zur Erstbewertung.](https://sn-prod.s3.amazonaws.com/download/16c5303f9a74c901a5bc99b1888aec10b4a28043/62fcc681ba018/ifl-temi-2022_09_annahme_hv-fahrzeuge-pdf.pdf) „Unabhängig davon gelten aber immer die tagesaktuellen Herstellerinformationen – wie auch bei der Reparatur. Und die Hersteller haben ihre Hausaufgaben gemacht: Sie stellen inzwischen sehr detaillierte und ausführliche Informationen rund um die Gefährdungsklassifizierung, die Transportbewertung sowie den Ausbau der HV-Batterien zur Verfügung. Daraus ergeben sich für die Betriebe genaue Handlungsanweisungen bezüglich Quarantäne, Verwahrung und Transport“, betont Geschäftsführer Helge Kiebach. ## Gefährdungsklassifizierung am Tesla Model 3 Bei Tesla gibt es laut KTI-Prokurist Rainer Kühl je nach Modell und Batterie unterschiedliche Herstellerinformationen. Der amerikanische Elektroauto-Pionier hat die HV-Batterie in unterschiedliche Zonen eingeteilt, um so eine genau Lokalisierung des Schadens zu ermöglichen. Zudem erhalten die Anwender Checklisten sowie Toleranzen für diverse Messwerte an die Hand. In diesem Zusammenhang betont Rainer Kühl: „Es kann keinen anderen Weg bei der Gefährdungsklassifizierung geben als den, den der Hersteller vorgibt. Dennoch wird uns fast wöchentlich von Fällen berichtet, in denen
verunfallte E-Autos pauschal zum Risiko erklärt und in Quarantäne gestellt werden, ohne dass eine nachweisbare Gefährdung vorliegt. Und genau da liegt das Problem.“ Zusätzlich zur allgemeinen Gefährdungsklassifizierung enthält der Tesla-Leitfaden auch ausführliche Transportvorgaben für beschädigte HV-Batterien gemäß ADR, wie der KTI-Prokurist den Teilnehmern erklärt. Einziges Manko aus Sicht des KTI: Aktuell gibt es kein Reparaturkonzept für Batterien, bei einer defekten Zelle oder auch Beschädigungen am Gehäuse über die Toleranzen hinaus müsse daher immer die komplette Batterie ersetzt werden. Diese sei aber laut Rainer Kühl mit unter 10.000 Euro im Vergleich zu anderen Herstellern verhältnismäßig günstig. ## VW ID.3: Detaillierte Bewertungsmatrix inklusive Bewertungsprotokoll Beim deutschen Automobilbauer VW gibt es hingegen bereits Austauschmöglichkeiten und Reparaturleitfäden für defekte Batteriemodule. Und auch für die Klassifizierung der Schäden stellt der Hersteller sehr detaillierte und umfangreiche Informationen zur Verfügung – sowohl für BEV als auch für PHEV. In Lohfelden demonstrierte KTI-Trainer Detlef Wedemeyer die Klassifizierung mit ODIS. Das herstellereigene Tool führt den Anwender mit Fragen durch den Vorgang und liefert zusätzlich detaillierte Checklisten, beispielsweise zu eventuellen Batterieschäden mit jeweiligen Beispielbildern und klaren Handlungsanweisungen. Einzig bei der von VW empfohlenen Messung der Oberflächentemperatur gibt KTI-Trainer Detlef Wedemeyer zu bedenken: „Bei der Messung mit einem Infrarotthermometer sollten zwei Punkte bedacht werden: zum einen reflektiert Aluminium Wärme, zum anderen ist die Messung stark Winkelabhängig. Beides könnte die Messung verfälschen. Wir empfehlen daher die Messung mit einem Kontaktthermometer oder noch besser diagnostisch durchzuführen.“ Am Ende des Bewertungsprozesses erhält der Anwender über ODIS zudem ein detailliertes Protokoll, das auch im Falle eines Batterietransports mitgegeben werden kann. ## Gefährdungsklassifizierung für Fiat 500e Der Stellantis-Konzern stellt für den Fiat 500e ebenso wie VW und Tesla Klassifizierungen für das Gesamtfahrzeug, die ausgebaute Batterie und den Transport der Batterie zur Verfügung. Jedoch sind diese aus Sicht des KTI schwerer zu finden als bei den anderen zwei Beispielmodellen. Projektmanager Philipp Fuchs zeigte den Anwesenden daher zunächst, welche Schritte im Herstellerportal zu bewältigen sind, um die Bewertungsmatrix zu finden, die wiederum einen detaillierten Ablaufplan mit einzelnen Prüfschritten beinhaltet. Im Bereich der diagnostischen Überprüfung gibt es unter anderem eine Tabelle mit kritischen Fehlercodes, die allerdings manuell vom Anwender abgeglichen werden muss. „Insgesamt ist die Datenlage gut, jedoch weniger detailreich“, resümiert Philipp Fuchs. Auch fehle es aktuell an einem Batteriereparaturkonzept auf Werkstattebene. ## Batteriediagnose mit Mehrmarkentestern funktioniert Im Rahmen des Fachsymposiums demonstrierten zudem die Werkstattausrüster Mahle, Herth + Buss sowie AVL, wie die Batteriediagnose mithilfe ihrer Mehrmarken-Diagnosegeräte funktioniert. Auch hier wurde deutlich, dass die relevanten Daten, wie Zellspannung, Isolationswiderstand und Zelltemperatur aus dem Batteriemanagementsystem ausgelesen werden können. Zusammen mit den Herstellerinformationen dienen diese Werte als Basis für die Bewertung. ## Gefahrgutvorschriften gemäß ADR Neben den praktischen Demonstrationen standen in Lohfelden auch theoretische Grundlagen auf dem Programm. So gab Thomas Schneider aus dem Fachbereich Sicherheit und Gesundheitsschutz von DEKRA einen umfassenden Überblick über die neuesten Gefahrgutvorschriften gemäß ADR. Besonderes Augenmerk legte er dabei auf die Sondervorschrift 667, die defekte oder beschädigte HV-Fahrzeuge mit einschließt. Der Transport von der Unfallstelle sei damit gemäß ADR klar geregelt. Da an der Unfallstelle laut der KTI-Experten in der Regel weder eine umfassende Gefährdungsklassifizierung noch ein sicherer Ausbau der möglicherweise defekten Batterie möglich ist, kann das Fahrzeug, unter Einhaltung der allgemeinen Sicherheitspflichten aus gefahrgutrechtlicher Sicht, regulär transportiert werden. Ein weiterer Transport, zum Beispiel von der Verwahrstelle zum Reparaturbetrieb, setze hingegen eine detaillierte Gefährdungsklassifizierung voraus, die – und das machten die KTI-Experten mehrfach deutlich – nur auf Basis der Herstellerinformationen fachgerecht erfolgen kann. Abschließend gab das KTI den rund 50 Teilnehmern noch einen Einblick in die Kooperation mit dem Fraunhofer Institut für Integrierte Schaltungen in Fürth. [Dort werden mit dem sogenannten AIR-Röntgensystem HV-Batterien geröntgt.](https://schaden.news/de/article/link/44100/kti-kooperation-fraunhofer-institut-batterie-roentgen) Damit lassen sich der interne Batteriezustand nach einem Unfallereignis überprüfen und die mechanische Integrität auf Batterie-, Modul- und Zellebene feststellen.
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