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2020-04-01T14:58:57+0000

Arbeitszeitwerte auf dem Prüfstand

Bruno Rauch, Thomas Berthold und Bernhard Ritter von Weinzierl sind hoch konzentriert: Seit morgens acht Uhr beobachten die Mitarbeiter des Allianz Zentrum für Technik (AZT) jeden Handgriff genau, den das Team des Lackcenters Chemnitz ausführt: Fahrzeug in die Lackierkabine verbringen, persönliche Schutzausrüstung anlegen, Lackierpistole in die Hand nehmen, Füller auftragen, ablüften lassen. Farbton ermitteln, Farbton ausmischen, Lack auftragen. Ca. 80 Arbeitspositionen umfasst die Liste, die in den vergangenen Wochen zur Grundausrüstung für die AZT-Mitarbeiter geworden ist und die hier, im Lackiercenter Chemnitz, im Sekundentakt erfasst werden. ## Kritik an Arbeitszeitvorgaben im Markt Der K&L-Betrieb in Sachsen ist eine von rund 15 Werkstätten, in denen das AZT seine Lack- und Materialzeitstudie bislang durchführte, um die Arbeitszeitwerte für den Lackierprozess auf ihre Aktualität zu überprüfen. Bereits Mitte vergangenen Jahres hatte das AZT Betriebe dazu aufgerufen, sich an der Erhebung zu beteiligen. [In einer schaden.news-Umfrage im Sommer 2018](https://schaden.news/de/article/link/40624/umfrage-arbeitszeitwerte-auswertung ) hatten 60 Prozent der befragten Betriebe angegeben, dass die Arbeitszeitvorgaben häufig nicht mit den tatsächlichen Reparaturzeiten übereinstimmen würden. Das betraf laut den Befragten alle Prozessschritte in der Instandsetzung, allem voran die Lackierung, den Austausch von Teilen, die Karosserieinstandsetzung sowie die Vorbereitungs- und Rüstzeiten. ## Mehr als hundert Betriebe wollten an Studie teilnehmen Ist die neue Lack- und Materialzeitstudie eine Maßnahme, um diese Vorbehalte aus dem Weg zu räumen? Seitens der Werkstätten besteht jedenfalls eindeutig Kommunikationsbedarf, zum Beispiel hinsichtlich des Übergabezustandes von Karosseriebau an Lackiererei – das bestätigt auch der Projektleiter Thomas Behl. Nach dem Aufruf des AZT hatten sich seinen Angaben zufolge weit über hundert Betriebe gemeldet. „Es waren sogar so viele, dass wir nicht alle davon auswählen können. Sonst wären wir bis Mitte nächsten Jahres jede Woche in einer anderen Werkstatt unterwegs.“ Andererseits, fügt Thomas Behl hinzu, hätten sich ausschließlich Werkstätten gemeldet, die tagtäglich mit der AZT-Lackkalkulation arbeiten. „Verglichen mit der Gesamtzahl an Fahrzeuglackierbetrieben in Deutschland müssten wir also eigentlich fragen: Warum haben sich nur so wenig gemeldet?“ Nichts destotrotz: Die Vielzahl der Betriebe, die sich für die Lack- und Materialzeitstudie bereiterklärt haben, ermögliche es dem AZT, ein möglichst heterogenes Feld an Studienteilnehmern zu generieren – vom Kleinstbetrieb mit zwei oder drei Beschäftigten bis hin zu Unternehmen mit an die 100 Mitarbeitern. Und auch was das verwendete Lackmaterial angehe, seien alle wesentlichen Lieferanten dabei vertreten. ## „Die Zeiten müssen endlich daraufhin überprüft werden, ob sie noch realistisch sind“ Einer der Betriebsinhaber, für die in Sachen Arbeitszeitwerte erhöhter Kommunikationsbedarf besteht, ist Marco Löscher. Der Inhaber des Lackcenter Chemnitz
hat sich gleich nach dem Aufruf im Spätsommer vergangenen Jahres für die Teilnahme an der Studie gemeldet. „Der Aufgabenbereich des Fahrzeuglackierers hat sich in den vergangenen 20 Jahren massiv verändert. Die Zeiten, die der Fachmann reell für die einzelnen Handgriffe bei der Vorbereitung, Lackierung, bis hin zum Finish benötigt, müssen endlich grundlegend daraufhin überprüft werden, ob sie noch realistisch sind“, begründet er. Die letzte große Erhebung der Arbeitszeiten und Materialien durch das AZT fand 2010 nach eigenen Angaben in zahlreichen Betrieben statt – im Zuge der Umstellung auf Wasserbasislack. „Der Unterschied zur damaligen Studie ist jedoch, dass wir dieses Mal den kompletten Reparaturprozess des Fahrzeugs erheben – von der Verbringung des Fahrzeugs in die Lackiererei, über die Vorbereitung, den Lackiervorgang bis hin zum Finish und inklusive der Arbeitsschritte, die eigentlich dem Karosseriebau bzw. der Mechanik zuzuordnen sind“, erklärt Thomas Behl. Diese umfassende Methodik sei eine Premiere bei der Erfassung der Daten für die AZT-Lackkalkulation und liefert am Ende zusätzliche Ergebnisse über die eigentliche Lackkalkulation hinaus. ## „Wir können nur etwas ändern, wenn wir bereit sind, einen Einblick in unsere tägliche Arbeit zu geben“ Hatte Marco Löscher Bedenken, sich und seinem Team bei der Arbeit über die Schulter schauen zu lassen? „Überhaupt nicht. Ich bin ein offener Typ und habe keine Geheimnisse. Alle schimpfen über die unzureichenden Arbeitszeitwerte. Aber wir können nur etwas daran ändern, wenn wir auch bereit sind, einen Einblick in unsere tägliche Arbeit zu geben“, begründet der Betriebsinhaber. ## Erfasste Aufträge entsprechend dem jeweiligen Arbeitsablauf Je vier bis fünf Tage lang erfassen die AZT-Mitarbeiter nun pro Betrieb jeden Handgriff. „Unsere Mitarbeiter kommen morgens zu dritt in den Betrieb. Zwei der Mitarbeiter beobachten und messen die Tätigkeiten je eines Auftrages, der dritte ist der Springer“, erläutert Thomas Behl. Dabei erfolge die Auswahl der zu beobachtenden Aufträge durch Zufall – „so, wie sie reinkommen“, berichtet der Projektleiter. Dabei könne es sich um eine komplette Unfallinstandsetzung eines Fahrzeuges handeln, oder auch nur um ein einzelnes Teil, das bearbeitet werden muss. ## Querschnitt aus zahlreichen Instandsetzungs- und Lackierverfahren Auf diese Weise habe das AZT inzwischen eine Vielzahl an verschiedenen Instandsetzungsszenarien, Reparatur- und Lackierverfahren in seine Studie aufnehmen können. Während die AZT-Mitarbeiter nun also hochkonzentriert jeden Arbeitsschritt auf ihrem eigens dafür entwickelten Erfassungsgerät – eine Kombination aus Klemmbrett und Tablett – via Tastendruck vermerken, wiegt und misst der Springer den Materialverbrauch akribisch: Wie viel Gramm Basislack wurde für den Spritzgang verbraucht? Wieviel Meter Maskingtape benötigte der Lackierer? Welche Schutzausrüstung verwendet der Mitarbeiter? Alle Angaben werden zusammen mit
den jeweiligen Fahrzeugdaten wie Hersteller und Typenbezeichnung in einer für jeden Auftrag separaten Liste vermerkt. Das erfordert Know-how seitens der Erfassenden. ## Umfangreiche REFA-Ausbildung für AZT-Team Sechs Wochen lang wurden die AZT-Mitarbeiter in speziellen Seminaren des REFA Verbandes für Arbeitsstudien und Betriebsorganisation auf die aufwändige Zeit- und Materialstudie vorbereitet und mussten sich mit umfangreichen Prüfungen für das Vorgehen zertifizieren. Und auch was das Erkennen der einzelnen Reparaturschritte angeht, erfordert es umfangreiches Vorwissen vom AZT-Team. „Die Mitarbeiter haben zum Teil keine Möglichkeit, mit dem Lackierer über die genaue Tätigkeit zu kommunizieren – beispielsweise, weil dieser in der Lackierkabine steht und der Erfasser das Geschehen nur durch die Scheibe beobachten kann. Er muss also genau wissen, wann eine Arbeitsposition beendet ist und die nächste beginnt – und diesen Moment durch Druck auf die richtige Ziffer vermerken“, erläutert Thomas Behl, während Bruno Rauch den Lackiervorgang zeitlich erfasst. ## Erfassung vorerst ergebnisoffen Was wird die AZT-Studie jedoch konkret für die Arbeitszeitwerte bedeuten? Dazu kann selbst Projektleiter Thomas Behl zum jetzigen Zeitpunkt noch keine Auskunft geben. „Unsere Untersuchungen führen wir unvoreingenommen und ergebnisoffen durch. Erst nach der Auswertung des Datenmaterials werden wir – abhängig von den gewonnenen Erkenntnissen – konkrete Maßnahmen erarbeiten können“, erklärt er. Für realistisch halte er, dass kleinere Änderungen, beispielsweise bei mehr verbrauchter Zeit für einen Arbeitsschritt, sukzessive oder als größere Sammlung in den bisherigen Datensatz des AZT-Lackkalkulationsystems eingespielt werden. Ebenso realistisch sei es auch, dass bestimmte Arbeitspositionen zum derzeitigen Datensatz hinzugefügt werden. Als Beispiel nennt Thomas Behl die Entfernung und das erneute Aufbringen des Steinschlagschutzes auf ein instand zu setzendes Fahrzeug. Zudem seien Vorbereitung und Finish derzeit in der AZT-Kalkulation noch als eine gemeinsame Arbeitsposition zusammengefasst. Der Projektleiter der AZT-Studie hält es für möglich, dass diese Tätigkeiten zukünftig als eigene Positionen erfasst werden. „In diesen Fällen werden wir sowohl die K&L-Betriebe, als auch den Markt umfassend über die geänderten Positionen informieren“, gibt Thomas Behl einen Ausblick. Betriebsinhaber Marco Löscher jedenfalls würde ein solches Vorhaben begrüßen. In diesem Fall, versichert Projektleiter Thomas Behl, werde der Inhaber sogar einer der ersten sein, der von diesen Neuerungen erfahre. Denn alle teilnehmenden Betriebe werden nach Aussagen des AZT nach Auswertung der Studie zu einer ersten Präsentation der Ergebnisse nach Ismaning eingeladen.
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