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2017-05-03T13:48:43+0000
# „Jeder sollte eine Chance bekommen“ **Frau Wasner, wie profitieren Betriebe davon, Geflüchtete in der Werkstatt anzustellen?** Zunächst muss man sich ganz nüchtern die Zahlen anschauen: Über die Hälfte der Geflüchteten, die zwischen 2014 und 2016 gekommen sind, sind unter 25 Jahren, weitere rund 25% sind unter 35 – sie sind jung und haben noch ein langes Arbeitsleben vor sich. Gleichzeitig kämpft das Handwerk mit existenziellen Engpässen bei Mitarbeitern und Auszubildenden. Die Betriebe stehen hier also unverhofft vor einer Gruppe von potenziellen zukünftigen Fachkräften. Dabei sind die meisten Betriebe, die bereits Erfahrungen gemacht haben mit dieser Gruppe und mit denen ich gesprochen habe, begeistert von der überdurchschnittlichen hohen Motivation ihrer Mitarbeiter mit Fluchtgeschichte. Klar, wer über die Flucht alles verloren hat, ergreift eine Chance, wenn er sie erhält! Die Betriebe erzählen auch davon, dass sie sich anfangs mehr kümmern müssen - aber das sei am Ende des Tages ein Geben und Nehmen und letztlich für alle ein Gewinn. Daneben sind die Mitarbeiter meist auch besonders loyal, weil sie den Betrieb und die Kollegen wahrnehmen als diejenigen, die ihnen die Chance gegeben haben. Außerdem bringen diese Menschen Fähigkeiten und Fertigkeiten mit sich, die unsere Betriebe bereichern können, genauso auch wie ihre sozialen Kompetenzen und Eigenschaften wie zum Beispiel Flexibilität.
**Wieso eignet sich besonders das Handwerk, um Geflüchtete als Arbeitskräfte zu integrieren?** In erster Linie: Weil Handwerk zu einem Teil aus Tätigkeiten besteht, die zunächst visuell vermittelt werden können, also über das „Vormachen“. Das macht den Einstieg leichter und kann motivierende Erfolgserlebnisse bringen – die Sprachbarriere ist die größte Schwierigkeit bei der Integration von Mitarbeitern aus anderen Ländern. Außerdem ist das Handwerk mit seinen Entwicklungsmöglichkeiten besonders attraktiv für jene Flüchtlinge, die bereits eine berufliche Vorbildung mitbringen, weil sie bis zu ihrer Flucht in einem Betrieb – manchmal sogar im eigenen – gearbeitet haben oder etwa eine Technikerschule im Herkunftsland besucht haben. Betriebe, die sich für solche Menschen engagieren und vermitteln können, wie perspektivreich das Handwerk, können so gute und hochmotivierte Fach- und spätere Führungskräfte langfristig an sich binden, die darauf brennen, sich hier ein neues Leben aufzubauen. **Was ist die größte Schwierigkeit, bei der Integration eines Geflüchteten in das Team und in die betrieblichen Abläufe?** Grundsätzlich lassen sich einige Themen ausmachen, die öfter mal zum Tragen kommen, wie zum Beispiel ein uns fremdes Hierarchieverständnis, das zu Missverständnissen und auch Irritationen führen kann. Die meisten Schwierigkeiten sind aber so individuell wie jeder andere Mitarbeiter auch. Eine fast allen gemeinsame große Herausforderung ist allerdings – neben der Bürokratie – der Spracherwerb, der von Arbeitgeber wie auch Arbeitnehmer immer wieder als Problem genannt wird.
Dabei geht es einmal um Sprachkenntnisse, die im Alltag erforderlich sind, um eine gute Verständigung im Team möglich zu machen, aber auch um die Fachsprache des jeweiligen Berufes. Schon die Sicherheitseinweisungen können bei fehlenden Vokabeln schwierig werden. Die Gesetzliche Unfallversicherung bietet übrigens auf ihrer Homepage mehrsprachige Unterweisungen und auch Videos ganz ohne Sprache zum Thema Arbeitssicherheit an. Auf jeden Fall wünschen sich viele Betriebe und Mitarbeiter mehr Sprachförderung. Wobei es bereits einiges gibt, was auch parallel zu einem Arbeitsverhältnis laufen kann. Und: Auch im betriebliche Alltag selbst lässt sich etwas machen, in dem man zum Beispiel den Mitarbeiter ermuntert, zu sprechen oder Vokabelhefte mit sich zu führen für die wichtigen Fachbegriffe. **Warum ist der Ratgeber gerade jetzt aktuell?** Es gibt heute bereits viele gute Beispiele in den Unternehmen, die uns zeigen, welche Faktoren die Integration in Betriebe gelingen lassen und wo Schwierigkeiten liegen können. Diese Erfahrungen möchte ich vermitteln, damit wir sie uns zu nutzen machen, wenn jetzt zum Beispiel in Hessen Ende des Jahres rund 80 Prozent der zwischen 2014 und 2016 Geflüchteten auf den Arbeitsmarkt kommen. Denn zu diesem Zeitpunkt werden sie ihre Asylverfahren durchlaufen haben und die Integrationskurse abgeschlossen sein. Und es werden auch immer mehr junge Leute die berufsvorbereitenden Programme der Handwerkskammern durchlaufen haben, so dass auch hier Potenzialträger gesucht werden können. Die Chance sollte das Handwerk ergreifen – der Ratgeber soll Betriebe unterstützen, die im Moment noch unsicher sind, weil sie zu wenig über das Thema wissen.
**Aus welchem Anlass haben Sie dieses Buch geschrieben?** Wie gesagt: Drei Viertel der Geflüchteten, die jetzt auf den Arbeitsmarkt kommen, sind unter 35 Jahren alt und brauchen eine Perspektive, gleichzeitig klagen Betriebe über bedrohlichen Lehrlingsmangel. Es wäre doch irre, wenn wir nicht alles versuchen würden, diese beiden Probleme gemeinsam zu lösen! Die Chance auf eine Win-Win-Situation ist ja nach den bisherigen Erfahrungen der Betriebe unbedingt vorhanden - das müssen wir nutzen! Es gibt aber auch einen kleinen persönlichen Teil in der Geschichte dieses Ratgebers: Ich habe selbst eine Ausbildung zur Kfz.-Mechanikerin gemacht und auch eine Weile in dem Beruf gearbeitet. Leider habe ich es aber nie gelernt, den Vorurteilen Frauen gegenüber mit ausreichender „Coolness“ zu begegnen, und habe deswegen irgendwann entnervt aufgegeben. Mein Wunsch ist es, dass jeder und jede, unabhängig von Herkunft, Geschlecht und was auch immer, möglichst gute Bedingungen findet, um überhaupt eine Chance zu haben. Natürlich wird auch dann nicht jeder durchkommen – aber wenn wir die Bedingungen nicht entsprechend gestalten, uns also nicht kümmern und nicht auf die Bedürfnisse eingehen, dürfen wir uns natürlich nicht wundern, wenn wir die Jugendlichen für das Handwerk verlieren – eine nicht aufgegriffene Challenge ist eine verlorene Challenge. Eine weitere Verbindung zum Thema habe ich noch über meine äthiopische Pflegetochter, die als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling nach Deutschland gekommen ist. Durch sie und ihre Freunde habe ich viel gelernt darüber, was für Jugendliche mit Fluchtgeschichte wichtig sein kann.
**Welche Anlaufstellen haben Betriebe, wenn sie einen Geflüchteten bei sich im Betrieb arbeiten lassen möchten?** Als zentrale Anlaufstelle möchte ich die Handwerkskammern und die Willkommenslotsen nennen. Einen Überblick dazu, welche Handwerkskammern welche Unterstützung bietet, findet sich im Ratgeber. Ist ein Geflüchteter noch im Asylverfahren, kann es sinnvoll sein, sich bezüglich Arbeitserlaubnis direkt mit der Ausländerbehörde zu verständigen. Das gilt übrigens auch, wenn der Betrieb für einen jungen Flüchtling eine Ausbildungsduldung erwirken möchte. Denn laut dem Integrationsgesetz von 2016 bekommt jeder Geflüchtete, der eine Ausbildung beginnt, für die Dauer der Ausbildung sowie im Anschluss für weitere zwei Jahre eine Duldung. Leider wird diese Regel regional sehr unterschiedlich ausgelegt, besonders im Freistaat Bayern kämpfen Betriebe und Helfer mit einer sehr restriktiven und den Interessen des Arbeitsmarktes entgegenstehenden Anwendung der gesetzlichen Vorgaben. Dabei hat der Gesetzgeber mit dieser Ausbildungsduldung etwas geschaffen, was für Betriebe und Geflüchtete echte Perspektiven öffnet! Ich hoffe sehr, dass sich der DIHK und der ZDH und die vielen anderen Organisationen, die sich hier für eine einheitliche und transparente Anwendung der Regelung einsetzen, Gehör verschaffen können werden. Vielen Dank für das Interview! Wasner, Anouschka: Flüchtlinge im Handwerk integrieren und beschäftigen. Potenziale erkennen | Chancen nutzen | Perspektiven schaffen. 1. Auflage 2017, Holzmann Medien, 144 Seiten, 19,90 Euro.
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