2019-01-09T10:39:49+0000

„Die Arbeitszeitwerte sind Richtwerte“

__Herr Aukamm, für wie schwerwiegend halten Sie die Abweichungen der Arbeitszeitwerte in den Schadenkalkulationssystemen zu den tatsächlichen Reparaturzeiten?__ __Thomas Aukamm:__ So vielseitig wie die Abweichungen in den Schadenkalkulationssystemen sind, so unterschiedlich können die Ursachen dafür sein. Um hier den Ursprung einer Abweichung zu finden, muss hinterfragt werden, wie, wo und unter welchen Bedingungen die Arbeitszeitwerte entstanden sind, wer der Datenlieferant ist, und wie diese Werte dann den Weg in das jeweilige Kalkulationssystem gefunden haben. Wenn z.B. von einem Fahrzeughersteller für die (De-)Montage einer Dachantenne nur die reine Zeit der Montage des Antennenmoduls angegeben wird, aber nicht die für diese Arbeit notwendige Entfernung und erneute Montage des Dachhimmels, so können sich hier enorme Summen an nichtabrechenbare Zeiten ergeben. In der Folge entsteht eine Anhäufung von nicht abgerechneten Zeiten bei ohnehin teilweise deutlich zu niedrigen Stundensätzen. Dies in Kombination mit immer mehr werdenden administrativem Aufwand machen Reparaturaufträge immer unrentabler. __Wo sehen Sie die Ursache für Abweichungen?__ __Thomas Aukamm:__ Die ganze Branche spricht von Arbeitszeitwerten. Die korrekte Bezeichnung ist „Arbeitszeitrichtwertkataloge“. Der Name drückt genau aus, was damit auch gemeint ist. Denn wir reden hier keinesfalls von den sogenannten „in Stein gemeißelten Arbeitszeiten“ oder über strenge und verbindliche Vorgaben. Und wir reden auch nicht davon, dass diese OEM-Vorgaben für die gesamte Reparaturbranche bindend sind, was auch kartellrechtlich bedenklich wäre. Die Arbeitszeitrichtwertkataloge der Automobilhersteller dieser Welt sind Richtlinien oder Empfehlungen für Reparaturarbeiten und Lackierarbeiten für den internen Händlerverband. Diese Zeiten wurden größtenteils geschaffen, um Garantie und Kulanzarbeiten mit dem Händlerverband abrechnen zu können. Auch für die sogenannten Versicherungseinstufungen sind diese Richtwerte ausschlaggebend. Die OEMs wollen günstige Versicherungseinstufungen für ihre Fahrzeuge und hier spielen günstige Reparaturkosten ebenfalls eine wichtige Rolle. __ Also gibt es eigentlich keine verbindlichen Arbeitszeitwerte in der Schadenkalkulation?__ __Thomas Aukamm:__ Grundsätzlich gilt, dass die OEMs und Importeure, genauso wie es die Gesetzgebung mit der Gruppenfreistellungsverordnung 2010 auch festgelegt hat, sich an dieses Gesetz halten und dem Markt tagesaktuelle, reparaturrelevante Informationen, wie zum Beispiel Reparaturleitfäden, zur Verfügung stellen. Aus diesen Reparaturleitfäden werden dann die Arbeitszeitrichtwerte ermittelt. Daraus lässt sich herleiten, dass es keine aktuellen modellbezogenen Arbeitszeitrichtwerte gibt, wenn auch keine aktuellen und vollständigen Reparaturleifäden existieren. Aufgrund der zunehmenden und in immer kürzeren Abständen erfolgenden Modellwechsel bei den Fahrzeugherstellern und Importeuren beobachten wir, dass sowohl die Qualität als auch die Quantität der für die Reparaturbranche unerlässlichen Reparaturanleitungen leiden. Nach unseren Informationen ist es Normalität, dass Fahrzeuge bereits bis zu zwei Jahre auf den Straßen Europas unterwegs sind, bevor die Datenanbieter die notwendigen Informationen von den OEMs abrufen können. So bleibt den Datenanbietern zwischenzeitlich nur der Weg der Eigenerhebungen, um Ihre Systeme vollständig und aktuell halten zu können. __Was unternimmt der Zentralverband gemeinsam mit der IFL, um die Situation zu verbessern?__ __Thomas Aukamm:__ Der Zentralverband für Karosserie- und Fahrzeugtechnik hat im Jahr 2017 eine Arbeitsgruppe in der IFL geschaffen, die sich ausschließlich mit dieser Thematik befasst. (Interessengemeinschaft für Fahrzeugtechnik und Lackierung e.V.). Eine Gruppe der Gesellschafter der IFL ist z.B. das Konsortium der Datenlieferanten, in dem bereits alle marktrelevanten Datenanbieter seit vielen Jahren Mitglied sind. Die Mitarbeiter der IFL und der Datenanbieter stehen im engen Erfahrungsaustausch, mit dem Ziel, Ursachen für Unstimmigkeiten in den Kalkulationen und auch zwischen den Kalkulationssystemen untereinander aufzudecken und Lösungen dafür zu finden. Hier soll auch das Gleichgewicht zwischen Praxis und Theorie hergestellt werden, damit schließlich realistische Werte entstehen können. Dabei gilt es auch, unterschiedliche Philosophien, Überlegungen und technische Herangehensweisen zu harmonisieren oder diese gegebenenfalls auch bestehen zu lassen. __Die Schadenkalkulation wird immer komplexer, worauf kommt es aus Ihrer Sicht in den Betrieben jetzt an?__ __Thomas Aukamm:__ Zunächst ist es von bedeutender Wichtigkeit und eine absolute Grundvoraussetzung, dass die schadenkalkulierenden Anwender in den Betrieben, die Sachverständigen und auch die Zuständigen bei den Versicherungen und deren Prüforgane sich darüber bewusst werden, dass die Kalkulationssysteme ein Spezial-Werkzeug für Fachleute sind. Entsprechend logisch erscheint uns die Tatsache, dass es ohne langjährige Berufserfahrung in der Reparaturbranche für Laien mittlerweile unmöglich ist, vollständige und fachgerechte Reparaturkalkulationen zu erstellen. Wir reden von vier Schwerpunkten: Karosserieinstandsetzung, Lackierung und Elektrik/Elektronik in Verbindung mit Mechanik (Mechatronik). Fehlen den Anwendern nur zu einem Fachbereich die erforderlichen Erfahrungen, kommt man ohne Unterstützung nicht aus, oder die Ergebnisse der Kalkulationen sind entsprechend unrealistisch. Es gibt von allen Datenanbietern wie auch vom ZKF sehr gut organisierte und ausgearbeitete Seminare zum Umgang mit den Systemen. Um hier nicht den Anschluss zu verpassen, raten wir den Anwendern, jährlich eine solche Schulung zu absolvieren. Das zahlt sich in jedem Fall aus. Keinesfalls dürfen finanzielle, politische oder versicherungstechnische Aspekte die technischen Inhalte von Unfallschadenkalkulationen beeinflussen. Die Reparaturleitfäden der OEMs sind dabei der „rote Faden“ für die gesamte fachgerechte Schadenbehebung. Nach Herstellerrichtlinie reparieren heißt: sich strikt an die Reparaturinformationen aus den Leitfäden der OEMs zu halten (= fachgerechte Reparatur nach Herstellervorgaben). __Ist ein Kostenvoranschlag ohne zusätzlich hinzugefügte Arbeitspositionen des K&L-Betriebs überhaupt noch möglich?__ __Thomas Aukamm:__ Die Kalkulationssysteme haben sich auch aufgrund der Aktivitäten der IFL weiterentwickelt. Es gibt unzählige Möglichkeiten, die Kalkulationen so zu formulieren, dass das Ergebnis dem tatsächlichen Reparaturaufwand zu 100% entspricht. Dass „Sternchenpositionen“ eine Abweichung von den Herstellervorgaben (Empfehlungen + Richtwerte) darstellen, schenken nur noch die Versicherer und deren Prüforgane Glauben. Ohne diese Sternchenpositionen bzw. Nichtstandardpositionen (NSP), wie eigene Positionen oder alternativ IFL-Positionen aus der IFL-Liste [„Frei wählbare Arbeitspositionen“](https://www.schaden.news/de/article/link/35699/ifl-aktualisiert-liste-frei-waehlbare-arbeitspositionen) lässt sich kaum noch eine umfangreiche Unfallschadenkalkulation realistisch erstellen. Selbst bei kleineren Schäden an Stoßfängern oder bei einer Erneuerung der Windschutzscheibe stoßen die Systeme oder die Anwender ohne diese zusätzlichen, in der Praxis entstandenen Positionen an ihre Grenzen. Ebenso sind viele Kalibrierungsarbeiten im Fahrprogramm des Fahrzeuges dynamisch und hierzu gibt es keinerlei Arbeitszeiten von den Herstellern. __Aber bei hinzugefügten Arbeitspositionen, die als Sternchenposition in der Werkstattrechnung gekennzeichnet sind, wird von Prüfdienstleistern häufig gekürzt…__ __Thomas Aukamm:__ Richtig, die Versicherer oder deren Prüforgane, die diese realistischen Werte nicht akzeptieren wollen, machen dann gleich eine Abweichung von den Herstellervorgaben daraus und kürzen als Folge die Rechnung des Betriebs. Niemals sollten sich die Anwender darauf verlassen, dass die Systeme alle erdenklichen Konstellationen berücksichtigen, schon gar nicht, wenn man nur eine Hauptarbeit auswählt und dann glaubt, alle erforderlichen Nebenarbeiten würden die Systeme automatisch kalkulieren. __Welche Rolle spielt die VIN-Abfrage?__ __Thomas Aukamm:__ Das Thema VIN-Abfrage ist nicht zu unterschätzen, da diese Methode der Fahrzeugidentifizierung momentan die sicherste ist. Dabei kann der Anwender immer die Ausstattungsvariante prüfen und den Reparaturauftrag ggf. korrigieren. Gleiches gilt hier für die jeweilige Ausführungsvariante. Die Lackfrage ist im Hinblick auf die Anzahl der Lackschichten (2-3-4 Schicht) für die Laien unter den Kalkulierenden kaum noch zu handhaben; vom Thema Fahrerassistenzsysteme und der Erfassung der erforderlichen Kalibrierzeiten für die verschiedenen Systeme ganz zu schweigen. Außerdem raten wir unseren Betrieben, wann immer es möglich ist, mit Sachverständigen zusammen zu arbeiten. Im Haftpflichtfall (ab ca. 850,- Euro) steht dem Geschädigten ein Gutachten vom Sachverständigen seiner Wahl zu. Im Kaskofall sollte man sich keinesfalls auf eine rein technische Reparaturfreigabe verlassen; auch hier ist es vorteilhaft, einen Sachverständigen des Versicherers hinzuzuziehen, um Missverständnisse auszuräumen und spätere Diskussionen zu vermeiden. __Was raten Sie den Betrieben, wenn es zu größeren Abweichungen kommt?__ __Thomas Aukamm:__ Auf alle Fälle sollten Betriebe bei Auffälligkeiten in der Kalkulation und der praktischen Umsetzung den sogenannten [IFL-Meldebogen](https://ifl-ev.de/meldebogen/) nutzen. Mit diesem können Unregelmäßigkeiten und Abweichungen der Arbeitszeitrichtwerte der IFL gemeldet werden. Diese Information wird dann von erfahrenen IFL-Technikern auf Plausibilität geprüft und kann zu Änderungen im Kalkulationssystem führen. Dieser IFL-Meldebogen kann zwischenzeitlich in allen Kalkulationssystemen aufgerufen und eingesetzt werden und führt dazu, dass jeder Betrieb in der Praxis auffällige Abweichungen melden kann und die Systeme mit realistischen Werten verbessert werden. Mit dieser Unterstützung werden die Kalkulationssysteme zum lebenden und immer genauer werdenden Hilfsmittel in den Werkstätten. __Vielen Dank für das Interview!__
Christian Simmert